Gewachsenes Archiv
Sanierung und Erweiterung der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig

Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig wurde seit ihrer Erbauung als Deutsche Bücherei ständig erweitert, zuletzt zum vierten Mal mit dem 2011 nach Entwürfen der Architektin Gabriele Glöckler abgeschlossenen Neubau, der sowohl von außen als auch von innen durch seine dynamischen Formen überzeugt.

Die Deutsche Nationalbibliothek hat die Aufgabe, das gesamte deutsche Schrifttum lückenlos zu sammeln. Neben dem 1916 in Leipzig nach Plänen des Architekten Oskar Pusch als Deutsche Bücherei errichteten Altbau gibt es nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main ein weiteres Haus, das heute zur Nationalbibliothek gehört.

Oskar Pusch war nach Fertigstellung der Leipziger Bücherei der Meinung, man müsse diese im Lauf der kommenden Jahrhunderte sicher noch zweimal erweitern. Da hatte er sich gründlich verschätzt: Derzeit kommen jährlich 300 000 deutschsprachige Publikationen auf den Markt, die die Nationalbibliothek aufnehmen muss. Mit anderen Worten: Jeden Tag wachsen die Regale in der Nationalbibliothek um rund 20 m mit Büchern, CDs und DVDs. Allein daran lässt sich ermessen, dass solche Gebäude im Grunde genommen mit der Zahl der Publikationen stetig wachsen müssten. Tatsächlich wurde die Deutsche Nationalbibliothek in Leipziger seit der Erbauung etwa alle 30 Jahre erweitert. Der bis dato größte Anbau war der 1983 errichtete Magazinturm mit seinen fünf fensterlosen Büchersilos, dessen 19 Geschosse hohe Fassaden nach 25 Jahren sanierungsbedürftig waren. Mit der vierten und vorerst letzten, 2011 abgeschlossenen Erweiterung nach Entwürfen der Stuttgarter Architektin Gabriele Glöckler, die 2002 als Siegerin aus einem internationalen Wettbewerb hervorgegangen war, ist die Bibliothek auf rund 14 000 m2 Nutzfläche angewachsen.

Erweiterung in eindeutig moderner Form 

Arnold Bartetzky spricht in seinem FAZ-Artikel zur Eröffnung des in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Büro ZSP Architekten errichteten Erweiterungsbaus der Deutschen Nationalbibliothek von einem „Bunker für das kollektive Gedächtnis“. Und tatsächlich bestehen rund drei Viertel des Neubaus aus Archivräumen. Den Rest teilen sich das Deutsche Buch- und Schriftmuseum und das Deutsche Musikarchiv. Da der Erweiterungsbau also überwiegend als Magazin genutzt wird, befinden sich drei Geschosse unter der Erde. Die übrigen sechs Geschosse des Neubaus wirken dafür umso transparenter: Das Gebäude öffnet sich zum Deutschen Platz mit einer großzügigen Fassade aus farbigen Glaspaneelen vor den Magazinen, die in einer von schimmernden Metallplatten bekleideten Schale „eingeschlagen“ sind, so wie sich ein Buchdeckel um die Buchseiten legt – freilich mit rundem Buchrücken. Das Foyer im Erdgeschoss ist komplett verglast und von außen gut einsehbar: „Laufen Fußgänger an der Fassade vorbei, werden sie schon zu Beobachtern der Vorgänge im Inneren. Und wenn sie schließlich eintreten, bewegen sie sich auf einer Linie, die man als das Schaufenster des Hauses bezeichnen könnte“, sagt Architektin Gabriele Glöckler. Gesagt werden muss darüber hinaus auch noch, dass im Zuge der Erweiterung die Räume im Altbau saniert und im linken der beiden Innenhöfe ein kleiner Neubau für den Musiklesesaal hinzu kam, der formal an die große Erweiterung erinnert.

Dynamischer Innenausbau für den Tresor 

Der komplexe Entwurf der Architektin beeindruckt mit seiner Dynamik auch im Inneren des Neubaus: Mit seinen gerundeten, schräg gestellten Flächen wölbt sich zum Beispiel der so genannte Tresor geradezu aus der Decke im Foyer heraus – eine innen mit Gold verkleidete Schatzkammer, in der besonders wert-
volle Objekte der Buchkunst gezeigt werden sollen. Die Mitarbeiter der Firma Plesch & Seidel konstruierten diesen Tresor als hängende Raumzelle. Der Metallbauer montierte eine Unterkonstruktion für die schrägen Wände des Tresors aus einem Stahlrahmen, den die Trockenbauer mit Leichtbauprofilen ausfachten und mit zwei Lagen Knauf Fireboard-Platten beplankten. Diese Wände erreichen F30-Qualität, sind allerdings nur die erste Brandschutzebene. Auf diese befestigten die Trockenbauer eine zweite Ebene aus CD-Profilen als Unterkonstruktion für die Gestaltung der abschließenden Wandoberflächen. Damit sie die gekrümmte Form besser ausführen konnten, verstärkten die Handwerker die Ecken und Kanten mit kreuzweise befesti­gten Blechstreifen. Für die im Finish in Q3 gespachtelte Oberfläche verwendeten sie zwei Lagen 12,5 mm dicker Gipskartonplatten, welche sie bei den engen Radien durch 6,5 mm dicke Formplatten ersetzten, da sich diese wesentlich besser biegen lassen.

Fließende Raumfolge um Vitrinen 

Ein Teil der Grundrissfläche der Dauerausstellung wird von großen Vitrinen strukturiert, die zum einen Objekte des Museums zeigen und zum anderen den Besucher „fließend“ durch die Ausstellung leiten. Um in den gebogenen Wandscheiben der Großvitrinen allerlei Technik unterbringen zu können, bauten die Handwerker diese als zwei eigenständig beplankte Vorsatzschalen. Diese im Abstand von 60 cm montierten 6 m hohen Leichtbauwände werden mit Stahlprofilen gegeneinander ausgesteift. Die Technik fand im großzügigen Zwischenraum ausreichend Platz. Die besondere Herausforderung bestand für die Trockenbauer nicht nur in der Höhe der Vorsatzschalen, sondern darin, keine Lasten auf die Großvitrinen aufzulegen. Daher mussten sie die Stützen über den Vitrinen mit drucksteifen Abhängern an der Decke befestigen, die in einem Knauf Spezialblech enden, das die Handwerker in den UA-Profilen festschraubten.

Klimatisierter Neubau umschlossen vom Altbau 

Eine ganz besondere Atmosphäre bietet der neue Lesesaal des Deutschen Musikarchivs: Hier studiert man in zwei raumhoch verglasten Geschossen eines kleinen Neubaus umgeben von historischen Fassaden, denn der Musikpavillon entstand mitten im linken der beiden Innenhöfe des Altbaus. Um den vollflächig verglasten Neubau klimatisieren zu können, befindet sich unter der abgehängten Trockenbaudecke eine Kühldecke. Das klingt zunächst nicht außergewöhnlich, jedoch mussten die Handwerker die aus Kupfermäandern bestehende Kühldecke Stück für Stück dem jeweiligen Radius der wellenförmigen Gipskarton-Lochdecke anpassen. Erst so konnte die geschwungene Decke die beiden von ihr geforderten Funktionen erfüllen: Akustik und Klimatisierung in einem.

Schritt in das 21. Jahrhundert 

Der rund 59 Millionen Euro teure Neubau nach Entwürfen von Gabriele Glöckler errichtet in Zusammenarbeit mit dem Büro ZSP Architekten verbindet den Altbau mit allen im Laufe seiner fast 100-jährigen Geschichte hinzugekommenen Erweiterungen. Er setzt sich deutlich vom historischen Bestand ab und selbstredend auch von den rein funktionalen, fensterlosen Büchersilos der 1980er Jahre. Zwei gegeneinander liegende Bücher kann man im Neubau erkennen, wenn man will: Ihre Form ist so verfremdet, dass sie vage bleibt. Im öffentlich zugänglichen Teil der Bibliothek und vor allem im Museum überzeugen die erstklassig ausgeführten Trockenbauarbeiten, die eins ums andere Mal sogar die geforderten Qualitäten noch übertreffen. Der Besucher geht wie durch einen fließenden Raum mit abgerundeten Kabinetten, in denen sich bisweilen Schätze verstecken. Mit der Erweiterung hat die Architektin also nicht nur mehr Fläche für die stetig wachsende Zahl deutschsprachiger Neuerscheinungen geschaffen, sondern die Deutsche Nationalbibliothek und das Deutsche Buch- und Schriftmuseum mit dem Deutschen Musikarchiv ins 21. Jahrhundert gebracht.

Autor

Dipl.-Ing. Thomas Wieckhorst ist Chefredakteur der Zeitschriften bauhandwerk und dach+holzbau.

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