Hoch wie tief
Vorbildliches Passivhaus in der Berliner Linienstraße

Charakteristisch sind die großen Erkerfenster des im vergangenen Jahr nach Plänen des Büros BCO Architekten in der Berliner Linienstraße fertiggestellten, vollkommen grauen Passivhauses. Was man auf den ersten Blick ­jedoch nicht sieht: Das Haus reicht auch 8,50 m in die Tiefe.

In der Berliner Linienstraße ist laut Bauordnung nur eine dreigeschossige Bauweise erlaubt. „Wir brauchten aber noch ein weiteres Geschoss, um das Projekt für den Bauherrn attraktiv zu machen“, sagt Lisa Wameling vom Berliner Büro BCO Architekten. Zugute kam den Architekten, dass in Berlin ein Geschoss nur dann als Vollgeschoss gilt, wenn es mit seiner Decke mehr als 1,40 m über die Geländeoberkante hinausragt. „Daher haben wir ein hohes Geschoss für eine Galerienutzung in der Erde versenkt“, so Architektin Wameling. Das Geschoss ragt genau 1,38 m aus der Erde heraus und fängt über schmale Lichtbänder an beiden Längsseiten das für die Nutzung als Galerie willkommene Oberlicht ein.

Wasser in der Baugrube

„Das Haus geht fast genauso weit unter die Erde, wie es hoch ist“, sagt Lisa Wameling und meint damit die beiden übereinander liegenden Tiefgeschosse, die eine bis zu 8,50 m tiefe Baugrube erforderlich machten. „Das war einer der aufwendigsten Teile der Bauaufgabe, der rund ein Achtel der Baukosten verschlang“, erzählt Johannes Gotaut, der den Bau leitende Architekt bei BCO. Ein wesentlicher Grund dafür ist der Berliner Grundwasserpegel, der in diesem Gebiet bei 6,5 m liegt. „Ab 2 m Grundwasserabpumpung wird die Sache problematisch, wenn man keine geschlossene Baugrube einrichten kann“, sagt Architekt Gotaut. Und das konnte man in der Linienstraße nicht, weil Kellerüberreste im Boden des vormals bebauten Grundstücks den Einbau von Spundwänden und damit eine geschlossene Baugrube unmöglich machten. Also mussten die Rohbauer mit einem normalen Berliner Verbau (also offen) arbeiten. Über fünf in der Baugrube verteilte Tiefbrunnen versuchten sie das Grundwasser abzupumpen. „Bei etwa 2 m Bautiefe unterhalb des Grundwassers kam die Wasserhaltung an die Grenze und pegelte sich bei diesem Wert ein“, so Johannes Gotaut. „Da haben wir noch mal umgeplant, um die Gebäudetiefe zu verringern“, sagt Lisa Wameling. Konkret konnte im zweiten, unter anderem als Tiefgarage genutzten Tiefgeschoss die PKW-Aufzugsunterfahrt von 1 m auf 70 cm reduziert werden.

Aussteifung der Schalung

Die Rohbauer konnten mit dem Betonieren beginnen. Doch so einfach dies klingt, war es in der 8,50 m tiefen Baugrube nicht. Denn um die Decke für das zweite Tiefgeschoss überhaupt betonieren zu können, musste der Verbau mit Doppel-T-Trägern und Stahlrohren ausgesteift werden. „Im zweiten Tiefgeschoss mussten die Rohbauer um die Stützrohre herum arbeiten“, erinnert sich Architekt Gotaut. Ein heikler Zeitpunkt im Bauablauf war der Moment, als die Handwerker die Aussteifung entfernen mussten, da die Decke unter dem Stützpunkt der Stahlrohre lag. 10 cm Bewegung der Stahlbetonaußenwände waren eingeplant. „Passiert ist aber gar nichts“, sagt Johannes Gotaut, der den Abstand der Stahlbetonwände zueinander mit dem Laser nachgemessen hat.

Weiße und schwarze Wanne kombiniert

Letztendlich steht das Haus mit seinen beiden Tiefgeschossen 1,5 m im Wasser. Das machte selbstverständlich eine Weiße Wanne aus WU-Beton (wasserundurchlässig) notwendig. Da mit der Galerie im ersten Tiefgeschoss aber auch eine hochwertige Nutzung einziehen sollte, wurde zusätzlich eine schwarze Wanne erforderlich. Statt einer Bitumendickbeschichtung klebten die Handwerker jedoch eine Frischbetonverbundfolie auf die Schalung. „Diese geht unter der Temperatur und dem Druck beim Betonieren mit dem Beton eine unlösbare Verbindung ein“, erklärt Architekt Gotaut den Vorteil dieser den Bauablauf wesentlich beschleunigenden Abdichtungsalternative.

Unter der Bodenplatte des beheizten Teils verlegten die Handwerker im zweiten Tiefgeschoss in drei Lagen 30 cm EPS-Platten. Den Beton brachten sie mit dem Schlauchkübel in die Baugrube ein und glätteten die Bodenplatte und Decke mit der Flügelglättermaschine. Die Decke der unbeheizten Tiefgarage wurde gedämmt und die Kalksandsteinwand zum beheizten Teil im zweiten Tiefgeschoss erhielt ein WDVS. Außen sorgt eine 26 cm dicke XPS-Perimeterdämmung für einen ausreichenden Wärmeschutz der Stahlbetonwände.

Stahlbetonbauweise mit grauem WDVS

„Aufgrund der 2,30 x 4,00 m großen Öffnungen in der Fassade für die Erkerfenster, die noch dazu nicht mal übereinander liegen, kam für den Rohbau nur eine Stahlbetonbauweise in Frage“, so Architektin Wameling. Von innen wurden die Stahlbetonoberflächen lediglich gespachtelt und weiß gestrichen. In einer der Wohnungen verzichtete man auf Wunsch der künftigen Bewohner selbst darauf und zeigte Sichtbeton. Nur die Außenwände der Galerie im Tiefgeschoss erhielten auf Wunsch des Galeristen eine Gipskartonvorsatzschale, damit dieser die Bilder, die dort gezeigt werden, möglichst flexibel aufhängen kann.

Außen erhielten die Stahlbetonwände ein WDVS aus Polystyrolhartschaumplatten mit mineralischem Außenputz, der einen Anstrich mit steingrauer Silikatfarbe erhielt. Diese hatten die Architekten zuvor mit dem Denkmalamt abgestimmt, denn das Stadtgebiet um die Linienstraße herum steht unter Ensembleschutz. Auch das Blech der „Stahlkäfige“ um die großen Erkerfenster ist steingrau lackiert. „Selbst die Alarmanlage haben wir im RAL-Ton 7030, also steingrau, gestrichen. Einfach alles ist grau – als hätte man das ganze Haus in einen grauen Farbtopf getaucht“, so Lisa Wameling.

Fenstererker mit Blick in die Straße

Erst nachdem das Gerüst verschwunden war, konnten die Handwerker mit der Montage der Fenstererker beginnen. Hierzu befestigten sie zunächst grau lackierte „Stahlkäfige“ mit Winkeln in den Fensterlaibungen. „Dafür mussten wir extra ganz am Ende des Bauablaufs einen Mobilkran besorgen“, sagt Architektin Wameling. Kein Wunder, denn die aus drei Gläsern bestehenden, fast 10 m2 großen Scheiben, welche die Handwerker von einer Scherenbühne aus vor die Stahlkäfige montierten, wiegen rund 600 kg. Für die Dämmung der Stahlkäfigseiten reichte ein Dämmstoff der WLG 030 trotz Passivhausstandard aus. „Das liegt daran, dass die Seitenwände der Erker nicht als Außenwände, sondern als Fensterrahmen gerechnet werden“, erklärt Johannes Gotaut. Bei allen übrigen Fenstern und den Schiebetüren zu den Dachterrassen handelt es sich um rahmengedämmte Holz-Aluminiumfenster mit Dreifach-Verglasung.

Fließende Grundrisse

Die Leitungen für die Technik sind in den Leichtbauwänden von Gipskartonboxen und in den Fußböden untergebracht. Diese Boxen nehmen die Sanitärräume, die Küche, Stauraum und die Treppen für die interne Erschließung der Splitlevel-Wohnungen auf. Hierzu bedurfte es natürlich entsprechender Aussparungen in den Decken – für das Treppenhaus und für den Installationsschacht. Zudem benötigten die Betondecken eben wegen der Aussparungen aus statischen Gründen  je zwei wandartige Stützen (15 x 60 cm), die in den Leichtbauwänden der Boxen integriert sind. Um die Aussparungen stellten die Rohbauer die Decken aus Ortbeton her. Für den überwiegenden Teil der Decken verwendeten sie jedoch wegen der großen Spannweiten Stahlbetonvolldielen, die sie als Fertigteile mit dem Kran montierten. Da das Haus im Grundriss jedoch ein leichtes Parallelogramm bildet, mussten die Handwerker auch die Dreiecke, die durch den Anschluss der geraden Stahlbetonvolldielen an die Außenwände entstanden, mit Ortbeton füllen.

In den Leichtbauwänden der Boxen stecken zudem Schiebewände, mit denen die Bewohner die Grundrisse nach Wunsch aufteilen können. „Später können die Schiebewände auch durch Trennwände ersetzt werden, wenn dies erforderlich wird. Wir nennen das Wohnen im Prozess mit fließenden Grundrissen. Auch die Doppelgeschossigkeit lässt sich nachträglich schließen. Das ist in Verbindung mit den 3 m hohen Decken der eigentliche Luxus der Wohnungen“, meint Lisa Wameling.

Der über 5 m hohe 100 m2 große Raum der Galerie im Tiefgeschoss ist stützenfrei. Da die Verbindung der ober- und unterirdischen Stahlbetonwände auf voller Länge der Galerie auf beiden Seiten von einem 1 m hohen Fensterband durchschnitten wird, mussten die Lasten des halben Hauses auf einen 95 cm breiten und 40 hohen Stahlträger abgeleitet werden, der sichtbar den ganzen Galerieraum durchläuft. Links und rechts des Trägers befestigten die Handwerker aus akustischen Gründen unter der Decke weiß gestrichene Holzzementwolleplatten (Sauerkrautplatten). Bei der Montage verzichteten sie auf Profile, wovon der Hersteller allerdings abrät. „Das sieht in Verbindung mit dem gefärbten Estrich auf dem Fußboden aber sehr gut aus und sorgt für eine erstklassige Akustik“, meint Architektin Wameling.  

Autor

Dipl.-Ing. Thomas Wieckhorst ist Chefredakteur der Zeitschriften bauhandwerk und dach+holzbau.

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