Wellen aus Stein
Das weltweit erste Museum mit Passivhausstandard wurde in Ravenburg erbaut

In Ravensburg entstand das weltweit erste Museum in Passivhausbauweise. Der Neubau vom Büro Lederer + Ragnarsdóttir + Oei überrascht mit einem Ziegeldach aus konisch zulaufenden Gewölbekappen. Die Fassade und die Gewölbe mauerten die Handwerker der Baufirma Georg Reisch aus recycelten Abbruchziegeln.

Türme und Tore, Befestigungswälle, schmale Gassen und Plätze prägen den mittelalterlichen Stadtkern von Ravensburg. In den vergangenen Jahren legte sich die oberschwäbische Kreisstadt ein eindrucksvolles Museumsquartier zu, das zu Beginn dieses Jahres einen weiteren Baustein hinzu bekam: das Kunstmuseum Ravensburg – im Juni ausgezeichnet mit dem Deutschen Architekturpreis.

Den Neubau der Stuttgarter Architekten Lederer + Ragnarsdóttir + Oei haben die Ravensburger einem Tauschhandel zwischen privatem Sammler und öffentlicher Hand zu verdanken. Dafür, dass der Stadt die Sammlung des 2006 verstorbenen Werbeberaters Peter Selinka von dessen Witwe überlassen wurde, stellte Ravensburg den Werken – Expressionisten sowie Arbeiten der Künstlergruppe Cobra und Spur – ein Haus. Die ortsansässige Baufirma Georg Reisch baute es auf eigene Rechnung und vermietet es nun an die Stadt. Das Unternehmen ist insbesondere auf dem Gebiet des nachhaltigen Bauens aktiv. So entstand die Idee, in Ravensburg ein Vorzeigeobjekt zu schaffen: das weltweit erste Museum mit Passivhaus-Standard.↓

Alt- oder Neubau?

Ob es sich bei dem Museum um einen Alt- oder Neubau handelt, ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Das Museum fügt sich in die engen Altstadtgassen ein, als wäre es schon immer dagewesen. Ein Haus unter Häusern am Fuß einer Anhöhe, die vom „Mehlsack“, einem mittelalterlichen, weißen Wehrturm, gekrönt wird. Die Fassade aus fett verfugten Abbruchziegeln erinnert an eine Stadtmauer, die kleinen Fensterrechtecke an Schießscharten. Unter der Traufe ragen Wasserspeier aus dem Mauerwerk. Einzig die dezenten Kupferbänder an Traufkanten, Fallrohren und Fensterrahmen lassen erahnen, dass es sich um einen Neubau handelt.

Die drei pragmatisch gestapelten Geschosse beherbergen unten Kasse und Kunstvermittlung, darüber die expressionistischen Werke, zuoberst die Cobra- und Spur-Künstler sowie Wechselschauen. Ein schma-
ler Erker an der Längsseite nimmt das Treppenhaus auf. Direkt daneben entstand ein kleiner, intimer Vorplatz – abgeschirmt durch eine Wand aus Glaslamellen, hinter der sich Besuchergruppen sammeln.

Beschwingte Ziegelgewölbe

Die Ausstellungsräume sind zurückhaltend gestaltet: Betonestrich, weiß und grau gestrichene Innenwände, flächenbündige Deckenleuchten. Die Kunst steht im Mittelpunkt. Im obersten Geschoss überrascht der Neubau dann aber mit einer spektakulären Ziegeldecke: Die konisch zulaufenden Gewölbe wurden in Anlehnung an Preußische Kappendecken gebaut. Zunächst montierten die Handwerker für jedes Deckenfeld eine zuvor am Rechner in 3D konstruierte, trapezförmige Holzschalung: Auf Leerbögen im Abstand von einem Meter nagelten sie 4,5 m lange und 3 bis 7 cm breite, konisch zulaufende Fichtenholzbretter. Dann vermauerten sie die 22 bis 26 cm langen und 5 bis 6,5 cm hohen Abbruchziegel im wilden Verband direkt auf der Schalung. Am Scheitelpunkt beginnend, mauerten jeweils zwei Handwerker ein Gewölbe. Anschließend vermörtelten sie die Fugen: Bis zu 15 mm dicke Lagerfugen gleichen die variierenden Steinmaße aus.

„Die größte Herausforderung war, dass wir beim Mauern nur die Rückseiten sahen, nicht die späteren Sichtflächen“, sagt Maurermeister Winfried Obert von der Baufirma Georg Reisch. „An einer senkrechten Wand lassen sich kleine Unsauberkeiten direkt retuschieren, hier kam das Ergebnis erst nach dem Ausschalen zum Vorschein.“

Wassernasen aus Beton

Zunächst aber musste der Mörtel abbinden, dann wurde die Ziegelschale mit 150 mm Aufbeton belas-
tet. Sechs Edelstahlanker pro Quadratmeter verbinden Mauerwerk und Beton. In die Decke einbetonierte, mit Stegplatten und Kopfbolzen verstärkte Doppel-T-Träger halten die Last der Gewölbe. Der untere Flansch ist jeweils an der Decke sichtbar, in einer ausgesparten Nut verlaufen Kabel und Stromschienen für die Beleuchtung. Auf der Betonschale verlegten die Handwerker 300 mm Wärmedämmung und dichteten das Dach zweilagig mit Bitumen ab. Die einzelnen Gewölbegräben werden über einen innenliegenden Schacht entwässert. Als Notüberlauf dienen in die Attika eingelassene Wasserspeier aus Betonfertigteilen – eine Sonderanfertigung der Firma Reisch. Weich geschwungene Steinbögen an den Traufkanten zeichnen den Verlauf der Gewölbe nach. Die Maurer schnitten die obersten Ziegel vor Ort mit einer Nasssäge zu. Kupferne, über die gesamte Wandbreite verlegte Attikableche verdecken die Schnittkanten.

An der Straßenecke kragt das Gebäude in den Obergeschossen aus. So bleibt für die Fußgänger unter dem Vorsprung genug Platz, neben der Straße gefahrlos um die Ecke zu gehen. Die Untersicht des markanten Erkers wurde ebenfalls vermauert. Wie beim Gewölbe verwendeten die Maurer eine Holzschalung, auf der sie die Ziegel zunächst mit 1,5 cm breiten Fugenleisten trocken verlegten und später grob vermörtelten. Erst nach dem Aufbringen von Aufbeton und Wärmedämmung sowie dem Betonieren der tragenden Stahlbetondecke entfernten sie zwei Wochen später von unten die Holzschalung und die Leisten und mörtelten die Fugen über Kopf aus.

Ein Museum als Passivhaus? Und ob.

Erstaunlich am Gebäude ist nicht nur die Recyclingfassade oder das beschwingte Ziegelgewölbe, sondern auch seine Energiebilanz. Mit einem Jahresheizwärmedarf von unter 15 kWh/m2a erreicht das Kunstmuseum Ravensburg als erstes Museum weltweit Passivhaus-Standard. Dabei waren die Architekten anfangs eher skeptisch. Ein Museum als Passivhaus? Auch Herz & Lang, Fachplaner für energieeffizientes Bauen, waren sich zunächst unsicher: „Die solaren Gewinne sind für ein Passivhaus eigentlich sehr wichtig“, sagt Geschäftsführer Florian Lang. „Und die fehlen uns.“ Wie jedes andere Kunstmuseum muss der Neubau mit wenigen Fenstern auskommen, um die Gemälde vor Sonneneinstrahlung zu schützen und über Kunstlicht optimal in Szene setzen.

Umso größeren Wert legten die Planer auf eine luftdichte, hochwärmegedämmte Gebäudehülle. Zwischen den 250 mm dicken Ortbeton-Innenwänden und der 115 mm Vormauerschale verlegten die Handwerker 24 cm Mineralwolle. Einen Schwachpunkt innerhalb der zweischaligen Konstruktion stellen die Anker und Edelstahlkonsolen dar, mit denen die Ziegel am Beton befestigt werden. Um die Wärmebrücken zu minimieren, entwickelten Herz & Lang ein System mit deutlich reduziertem Stahlanteil.

Besucher als Heizquelle

Zusätzlich zur Wärmedämmung garantiert eine Betonkernaktivierung gleichmäßig hohe Oberflächentemperaturen. In die Decke eingelassene Wasserschlangen heizen die Räume im Winter und kühlen sie im Sommer. Zur Heizung tragen auch die Beleuchtung und Besucher bei: 25 000 Gäste werden pro Jahr erwartet. „Als lebende Heizquellen bringen sie erhebliche interne Wärmelasten ins Gebäude“, sagt Florian Lang.

Um die wertvolle warme Luft nicht zu verschwenden, gewinnt eine Lüftungsanlage mit Wärmetauscher 90 Prozent der Wärme aus der Abluft zurück. Die über Quellluftöffnungen in den Sockelleisten eingeblasene Frischluft sichert ein ausgewogenes Klima in den Ausstellungsräumen von 20 bis 24 Grad und 50 Prozent Luftfeuchte (+/- 5 Prozent). Abluftöffnungen in den abgehängten Gipskartondecken beziehungsweise hinter den Wandleuchten (im oberen Saal) saugen die verbrauchte Luft wieder ab. Energie für Heizung und Kühlung, Be- und Entfeuchtung zieht das Museum aus einer Gas-Absoptionswärmepumpe und einer Geothermieanlage mit acht je 100 m tief reichenden Erdsonden.

Mindestens ebenso wichtig wie der Energieverbrauch des Hauses ist für Architekt Arno Lederer, wie viel Energie für die Herstellung der Baustoffe verbraucht wird. Wie schon bei mehreren anderen Projekten, entschieden sich die Architekten für eine Wiederverwertung alter Ziegel, diesmal aus einem belgischen Klos-
ter. „Warum müssen wir für jeden Bau immer neue Materialien erzeugen?“, fragt Arno Lederer. Zumal, wenn die recycelten Steine langlebig sind, nicht gestrichen oder verputzt werden müssen und ein abwechslungsreiches Farbspiel auf die Fassade zaubern.


Autor

Dipl.-Ing. Michael Brüggemann studierte Architektur in Detmold und Journalismus in Mainz. Er arbeitet als Redakteur und schreibt außerdem als freier Autor unter anderem für stern, DBZ, bauhandwerk und dach+holzbau.

Das Ravensburger Kunstmuseum ist das weltweit erste Museum mit Passivhaus-Standard

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