Aufstockung in Kelsterbach mit 50 Prozent Recyclingmaterialien

Der Bausektor spielt eine Schlüsselrolle bei der Ressourceneffizienz. Eine zu 50 Prozent aus Recyclingmaterialien belieferte Aufstockungsmaßnahme zeigt: Recycling lohnt sich sowohl für die Umwelt als auch für das Handwerk. Ein Leitfaden mit Interview für den richtigen Weg.

Eine zweite Chance erhielten Recyclingmaterialien bei dieser Aufstockung in Kelsterbach
Foto: Oliver Kessler, Wiesbaden

Eine zweite Chance erhielten Recyclingmaterialien bei dieser Aufstockung in Kelsterbach
Foto: Oliver Kessler, Wiesbaden
Mit derzeit 59.000 Wohnungen an 115 Standorten gehört die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte I Wohnstadt zu den bedeutendsten Wohnungs- und Entwicklungsgesellschaften Hessens. Zu ihren Aufgaben gehört daher nicht nur der Neubau, sondern als Bestandshalter auch die Pflege, die Modernisierung und die Erweiterung des Bestands.

Eine jüngste Aufstockung in Kelsterbach entstand vor diesem Hintergrund zu 50 Prozent aus Recyclingmaterial, das die Gesellschaft bei Abbruchmaßnahmen eigener Bestandsprojekte in Wiesbaden, Darmstadt und Kelsterbach gewonnen hat. Damit zeigt die Maßnahme einen neuen Weg, um Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Kostenersparnis im Sinne des Cradle-to-Cradle-Prinzips in Einklang zu bringen. Und erschließt damit sogar ein neues Geschäftsmodell für Handwerksbetriebe.

Geeignete Recyclingmaterialien und -elemente

Von Dachfolien, Sparren, Türen, Fensterbänke, Fenster, Elektroschalter-Abdeckungen, Innentüren, Balkonbrüstungsplatten, Fallrohre, Pflasterbeläge für den Außenbelag, Heizkörper, Fundamentreste: Es gibt fast nichts im Bauwesen, was sich nicht recyceln lässt. Aus alten Sparren können Holzständer für Wände werden, Fenster werden aufgearbeitet, Fundamentreste als Sandkasteneinfassungen verwendet, Pflaster erneut verbaut.

Sinnvolles Recyceln beginnt mit einem Konzept

Dieses Holz war schon einmal verbaut. In Form von Wandständern erlebt es eine zweite Karriere
Foto: Robert Lotz / NHW

Dieses Holz war schon einmal verbaut. In Form von Wandständern erlebt es eine zweite Karriere
Foto: Robert Lotz / NHW
Um dies auch sinnvoll zu tun, braucht es ein Konzept, das bereits in der Sammlungsphase, also beim Rückbau eines Projekts greift. Dieses beinhaltet unter anderem eine Liste der Materialien, die recycelt werden sollen. Auch die jeweilige Menge, Angaben zum künftigen Einsatzzweck und Aussagen darüber, ob die Masse für die gewünschte Nachnutzung tatsächlich ausreicht, werden darin festgelegt. „Wichtig ist zudem, dass die Planung des Nachnutzungsprojekts bereits in der Sammlungsphase beginnt und damit einhergeht.

Der umgekehrte Weg, also mit einer fertigen Planung zum Beispiel nach passenden Fenstergrößen im Recyclingfundus zu suchen, funktioniert nicht“, zieht Robert Lotz, Fachbereichsleiter Modernisierung & Großinstandsetzung bei der Nassauischen Heimstätte I Wohnstadt, Bilanz. Im Idealfall wird stattdessen nach und nach eine Materialbibliothek erstellt und gefüllt, die als Basis für spätere Bauprojekte dient. Ebenfalls bei der Planung bedacht werden muss die Verarbeitungskette. Je länger diese ist, desto mehr unnötige Kosten fallen an.

Im Sinne einer rationellen Wiederverwertung sollte zudem:

  1. das Material sofort aufbereitet werden. Beispielsweise sollten Fassadentafeln sofort nach Größen und Farben sortiert und gebündelt werden. Auch Holz sollte sofort entnagelt, sortiert und entsprechend der vorhandenen Querschnitte und Längen gebündelt gelagert werden.
  2. Balkonbrüstungsplatten und Fassadenplatten sowie Dachbahnen sofort vom Abbruchgebäude zum neuen Projekt geliefert werden – ohne Zwischenlager.
  3. das Material ggf. auf Schadstoffe untersucht werden. Da Altholz mit Bahnschwellen gleichgesetzt (Altholz Kat. 4) wird, kann es nur wiederverwertet werden, wenn es als schadstofffrei deklariert wurde und keine morschen Stellen vorhanden sind.
  4. das Material verwendet werden, wenn die Dimensionen dies erlauben. Für die Wiederverwertung in Holz-Ständer-Wandkonstruktionen geeignet sind beispielsweise Sparren im Querschnitt 6/16 oder 8/18. Im Idealfall können aus einem langen Sparren zwei Ständer produziert werden. Oder sie werden aufgedoppelt und erneut verbaut.
  5. die Arbeitszeit für die Aufbereitung des Materials bei der Kalkulation einberechnet werden. Die Sichtung, Prüfung und Entnagelung eines Sparrens erfordert im Schnitt zwei Minuten pro Laufmeter. Doppelte Arbeitsgänge – etwa zwischenlagern und umsortieren  – kosten unnötig Zeit und können eigentlich wirtschaftliche Maßnahmen schnell unwirtschaftlich werden lassen.
  6. jegliche Arbeitsschritte inklusive des Abbruchs, des Verbringens (Transport) und der Lagerkosten müssen bereits bei der Ausschreibung des Vorprojektes berücksichtigt werden und darüber auch bei einem Unternehmen verortet werden. Dies ist auch in Bezug auf die Gewährleistung nach dem Wiedereinbau wichtig.

In der Bauphase unterscheidet sich ein Recyclingprojekt nicht oder kaum von Projekten, die mit neuen Materialien errichtet werden. Gebaut wird meist mit vorgefertigten Wandelementen, in denen etwa Recyclingholz zum Einsatz kommt. Auch die Dauer der Montagezeit verlängert sich nicht.

Ein neues Geschäftsmodell

Und das Beste dabei: Für denjenigen, der auf Recyclingmaterialien setzt, eröffnet sich sogar ein neues Geschäftsmodell. Das gilt insbesondere für Unternehmen, die bei Abbrucharbeiten direkt an der Materialquelle sitzen. Sie können nicht nur fachlich einschätzen, welche Materialien wiederverwertbar sind und welche nicht. Sie können diese auch sofort sortieren – und erhalten somit kostengünstiges Material für das nächste Projekt. „Da Handwerker zudem beim Materialkauf in Vorleistung gehen müssen, reduzieren sie über die gesammelten Materialien auch noch ihr finanzielles Risiko“, ist Lotz überzeugt. „Denn das Sammeln, Sortieren und Aufbewahren ist eine reine Lohnleistung, die sich auf jeden Fall rentiert.“

Interview: Robert Lotz, Fachbereichsleiter Projektabwicklung, Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte I Wohnstadt berichtet, ob und wann sich die Kreislaufwirtschaft wirklich lohnt.

Robert Lotz ist Fachbereichsleiter Projektabwicklung bei der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte I Wohnstadt
Foto: Robert Lotz / NHW

Robert Lotz ist Fachbereichsleiter Projektabwicklung bei der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte I Wohnstadt
Foto: Robert Lotz / NHW
Frage: Welche Baumaterialien und -produkte eignen sich gut für einen Recyclingprozess, welche eher nicht?

Robert Lotz: Geeignet sind beispielsweise Fenster mit Zweischeibenverglasung. Werden diese vor der Wiederverwertung durch eine Zweischeibenverglasung mit Argonfüllung ausgetauscht, entstehen höherwertige Fenster. Zwar liegen deren Frame-Werte aufgrund der seinerzeit geringeren Rahmenbautiefe minimal unter den heutigen Fensterprofilen, doch wird dies durch das höherwertige Glas kompensiert. Schrankwände können zu Fensterbänken umgearbeitet werden. Dazu müssen sie lediglich zugeschnitten und mit Kantenumleimern versehen werden. Türen können gleichfalls wiederverwertet werden. Sie müssen lediglich abgeschliffen und neu gestrichen werden. Passende Türzargen hingegen baut oder kauft man besser neu. Die alten passen meist nicht oder die beim Ausbau entstandenen Beschädigungen erfordern einen zu hohen Reparaturaufwand. Für Außenanlagen bieten sich gebrauchte Betongehwegplatten und Pflastersteine an. Auch Abbruchreste (Ziegel) können als Mauern und Sitzgelegenheit oder als Füllmaterial im Sockelbereich wiederverwertet werden.

Frage: Wann lohnt sich der Einsatz von Recyclingmaterialien nicht?

Robert Lotz: Wenn die Verarbeitungskette zu lang ist. Das haben wir mühsam gelernt. So haben wir unsere Balkonbrüstungsplatten durch den Abbruchunternehmer abnehmen lassen. Das Transportunternehmen brachte sie zum Schreiner, der geschliffen, grundiert, lackiert und verpackt hat. Der nächste Betrieb lieferte die Elemente an die neue Baustelle, wo sie der Fassadenbauer wieder angeschraubt hat. Jeder Arbeitsschritt, das Zwischenlagern und jeder Transportweg hat Geld gekostet und letztlich die Kostenvorteile der Recyclingelemente nahezu eliminiert. Auch bei Bauelementen, bei denen viel repariert werden muss, lohnt sich das Wiederaufarbeiten nicht. Das gilt etwa für Fenster, bei denen Fensterbeschläge, Glasleisten und Beschädigungen aufgearbeitet bzw. ersetzt werden müssen.

Frage: Kann ein Handwerker sich über den Einsatz von Recyclingmaterial ein neues Geschäftsmodell aufbauen?

Robert Lotz: Ja. Insbesondere derjenige, der beim Abbruch an der Materialquelle sitzt, kann mit den gesammelten Materialien weiterarbeiten und sich sein eigenes Materiallager aufbauen. Damit reduziert er sein finanzielles Risiko, das er hätte, wenn er bei einem Auftrag durch den Kauf von Neumaterial in Vorleistung gehen muss. Zu beachten ist, dass die Planer und Bauherren der jeweiligen Projekte mit dieser Lösung einverstanden sind. Das betrifft auch den Punkt Gewährleistung.

Frage: Haben Sie eine Auswertung, inwieweit sich Recylingprojekte rentieren?

Recyclingmaterialien können überall im Gebäude verbaut werden. Die Übersicht zeigt das Beispiel einer Aufstockung in Kelsterbach
Zeichnung: Robert Lotz NHW / Daniela Ruchser-Schlote

Recyclingmaterialien können überall im Gebäude verbaut werden. Die Übersicht zeigt das Beispiel einer Aufstockung in Kelsterbach
Zeichnung: Robert Lotz NHW / Daniela Ruchser-Schlote
Robert Lotz: Sie rentieren sich sowohl im Hinblick auf den CO2-Ausstoß als auch in Euro und Cent. So haben wir allein bei der 90 m2 großen Außenwandfläche rund 1,6 Tonnen CO2 eingespart. Dabei haben wir auch noch Müll reduziert. Im Hinblick auf die Kosten haben wir alles akribisch ausgewertet. Beispielsweise haben wir den bei unserem Recyclingprojekt notwendigen Neuholzanteil ebenfalls einkalkuliert, der notwendig war, um die Bestandssparren konstruktiv zu ergänzen. Beim reinen Neukauf hätte uns jeder m2 Wandfläche mit Neuholz 133 Euro gekostet. Durch das Recyclingholz hat sich der Quadratmeterpreis auf 55 Euro reduziert. Bei den Fassadenplatten sah der Vergleich ähnlich günstig aus. Statt 183 Euro pro m2 für neue Platten zu zahlen, haben wir rund 95 Euro pro m2 gezahlt.

Frage: Wie sieht die Bilanz bei den Dachbahnen aus?

Robert Lotz: Durch die Wiederverwendung der Dachbahnen in der Recycling-Aufstockung haben wir fast eine Tonne CO2 pro Wohngebäude eingespart, indem wir die Dachbahn eines anderen Gebäudes komplett wiederverwendet haben. Wir haben nur dort neues Material ergänzt, wo Anschlüsse und Pass-Stücke notwendig waren (Traufe, First und Ortgang). Da die wieder verarbeitete Dachbahn erst 20 Jahre alt war und diese Kunststoffabdichtungsbahnen (TPO/FPO) eine durchschnittliche Lebenszeit von 55 Jahren haben, kann sie noch lange eingesetzt werden.

Frage: Wie sieht die Bilanz für Ihr Unternehmen aus?

Robert Lotz: Unser Pilotprojekt hat doch ein enormes Echo hervorgerufen. Die Geschäftsführung war begeistert. Wir überlegen derzeit, welche Materialien wir noch recyceln und in den Materialkreislauf zurückführen können. Um weitere Recyclingprojekte zu fördern, wollen wir daher nun intensiv in den Dialog mit Herstellern, Handwerk und Industrie gehen. Recycling ist für jeden ein Gewinn, und für die Umwelt sowieso. Unser Ziel muss und wird es somit künftig sein, alle Materialien so lange wie möglich im Kreislauf zu halten. Es dürfen aus unserer Sicht keine Produkte mehr eingebaut werden, die nicht recyclingfähig sind. Mit unserem ersten Projekt haben wir für diesen Weg ein klares Zeichen gesetzt.

Interviewerin/Autorin

Dipl.-Ing. (FH) Christine Ryll ist Architektin und betreibt als Fachjournalistin das Presse- und PR-Büro rylltext.

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