Gotische Bücherstube
Umnutzung der Jakobikirche in Mühlhausen zur Bibliothek

In Mühlhausen hat die Umnutzung von Kirchen Tradition: Mittlerweile werden sechs der elf goti­schen Gotteshäuser nicht mehr von der evangelischen Kirche genutzt. Eine von ihnen ist die 1296 erstmals urkundlich erwähnte Jakobikirche. Aus dem gotischen Natursteingebäude wurde durch den Einbau eines dreigeschossigen Stahlgerüstes die neue Stadtbibliothek.

Schon seit 1831 war die Jakobikirche nicht mehr für den Gottesdienst genutzt worden. Nachdem 1937 das Ansinnen der NSDAP, in der Kirche eine „nationalsozialistische Weihehalle“ einzurichten, noch abgewendet werden konnte, zog zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die Wehrmacht in das Natursteingebäude ein. Nach der Entfernung der Kirchenbänke wurden dort fortan Heeresgut und Lazarettgegenstände gelagert. Auch nach Kriegsende sollte die Jakobikirche nicht wieder zu gottesdienstlichen Zwecken genutzt werden und diente nun als Zigarren-, Woll- und Holzlager. Der Bauerhaltung hingegen wurde keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt, so dass die Kirche, verursacht vor allem durch das undichte Dach und die ebenso undichten Turmhelme, allmählich zu verfallen begann.

Umgenutzte Kirchen in Mühlhausen

Auch die Marienkirche, deren fünfschiffiger gotischer Innenraum nach dem des Erfurter Doms immerhin der zweitgrößte in Thüringen ist, die Kornmarktkirche sowie die Kilianikirche werden schon seit langem nicht mehr für Gottesdienste genutzt. In der Marienkirche hatte einst der Mühlhäuser Pfarrer und Sozialrevolutionär Thomas Müntzer den Aufstand, der schließlich zum Bauernkrieg führte, gepredigt. Der 1525 nach verlorener Schlacht hingerichtete Müntzer genoss beim ansonsten kirchenfeindlichen DDR-Regime ein hohes Ansehen, weshalb 1975 in der Marienkirche eine Müntzer-Gedenkstätte eingerichtet wurde. Heute wird das Gebäude als Museum genutzt, in dem neben Thomas Müntzer auch der Barock-Komponist Johann-Sebastian Bach gewürdigt wird, der hier vor 300 Jahren als Organist arbeitete.

Die Kornmarktkirche wurde schon seit 150 Jahren nicht mehr für Gottesdienste genutzt und beherbergte seitdem unter anderem Wohnungen (im Chor), gleichzeitig einen Kornspeicher (im Kirchenschiff) sowie später ein Bauernkriegsmuseum. Die zu diesem Zwecke hinzugefügten Einbauten sind mittlerweile wieder komplett aus dem Kirchenschiff entfernt worden, so dass die aktuelle Nutzung als Konzertsaal und Museum möglich wurde.

Die kleine Kilianikirche war in den 1960er Jahren als Gotteshaus aufgegeben worden und wurde dann lange Zeit als Materiallager der sozialistischen Autowerkstatt „PGH Autoflott“ genutzt. Nach der Wende ging der Betrieb jedoch pleite, woraufhin 2002 eine Bürgerstiftung die Kirche kaufte. Mittlerweile ist aus diesem Gotteshaus ein Theater geworden – eine spektakuläre Umnutzung, die nur durch radikale Eingriffe wie den Einzug einer Zwischendecke im Kirchenschiff und die Installation großflächiger Technikeinbauten unter den restaurierten Barockbildern der alten Gewölbedecke möglich wurde.

Das Portfolio der umgenutz-ten Kirchen in Mühlhausen wird komplettiert durch die Allerheiligenkirche, die heute eine Galerie beherbergt, sowie die Kapelle des Antonius-Spitals, die zu DDR-Zeiten als Speisesaal des Altenheims diente und mittlerweile vom privaten Eigentümer zum Seminarkomplex der Jugendherberge „AntoniQ“ umgebaut wurde.

Baugeschichte der Jakobikirche

Archäologische Untersuchungen im Kirchenschiff der Jakobikirche in den 1990er Jahren ergaben, dass die zum Großteil der Frühgotik zuzurechnende Kirche im 14. Jahrhundert auf den Fundament-resten von drei romanischen Vorgängerbauten errichtet worden war. 1559 brannte die dreischiffige Kirche infolge eines Blitzschlags aus, woraufhin 1592 ein Großteil der Gewölbekonstruktion über dem Kirchenschiff einstürzte. Die Jakobikirche hatte schon 1525 durch die Reformation an Bedeutung verloren, weshalb wohl auch der Brandschaden nur provisorisch repariert worden war, was schließlich den Einsturz zur Folge hatte.

1596 bis 1597 stellte man die Kirche zunächst als flachgedeckten Saalraum wieder her, um das Kirchenschiff 1732 bis 1735 auf die originale Höhe aufzustocken und mit einem gewalmten Dachstuhl zu versehen. Die Maßwerkgalerie wurde im Zuge dieser Umbauarbeiten abgenommen. 1831 wurde die Kirche schließlich geschlossen, wodurch der langsame, aber stetige Verfall begann.

Umnutzungspläne

Schon in der DDR hatte man sich Gedanken darüber gemacht, die stadtbildprägende Jakobikirche nicht länger als Lagerhalle zu verwenden, sondern einer angemessenen Nutzung zuzuführen. Zu diesem Zweck wurde 1973 eine Nutzungsstudie des Erfurter Instituts für Denkmalpflege durchgeführt, die den Umbau zu einer Markt-, Ausstellungs- oder Sporthalle, und eben auch zur Bibliothek vorschlug. „Das wäre damals in der DDR etwas sehr Außergewöhnliches gewesen“, so Stefan Zeuch vom Hochbauamt der Stadtverwaltung Mühlhausen. Die Pläne wurden allerdings nicht weiter verfolgt, so dass der Umbau zur Bibliothek erst 30 Jahre später vollzogen werden konnte.

Stark geschädigte Substanz

An die Umnutzung zu einer modernen Bibliothek war jedoch nach der Wende nicht im Entferntesten zu denken, da sich die Jakobikirche zu diesem Zeitpunkt in einem bedenklichen baulichen Zustand befand. Vor allem die Schieferdeckung der Kirchtürme wies starke Schäden auf, die auch die darunter liegende Brettschalung und selbst die Tragkonstruktion der Türme bereits angegriffen hatte. Das Walmdach des Kirchenschiffs war ebenfalls undicht, weshalb sich die Schwellen des Dachstuhls und auch die Mauerkrone bereits im Zustand fortgeschrittenen Verfalls befanden – der Dachstuhl hing teilweise schon im Kirchenschiff. Dachrinnen fehlten an der Jakobikirche komplett, wodurch das Wasser in die Strebepfeiler lief und über das ausgewaschene Fugennetz ins mittelalterliche Schalenmauerwerk eindrang (siehe Fachbeitrag auf Seite 46 bis 49). Die Stadtverwaltung beantragte daraufhin umgegehend Fördergelder für die Sanierung der Jakobikirche, die 1992 begann und bis ins Jahr 2003 dauern sollte.


Sanierungsarbeiten


Die erste Aufgabe der Handwerker bestand in der Sicherung und Reparatur der Treppenaufgänge in den bei­den Türmen. Vor allem die Holztreppe im Nordturm wies durch den ständigen Wassereintrag starke Schäden auf. Im Anschluss daran begannen die Sanierungsarbeiten an den beiden Türmen: Das Mauerwerk wurde hier lediglich neu verfugt und teilweise ergänzt, während bei den Turmhelmen eine umfassende Ergänzung der Holzkonstruktion, eine neue Brettschalung sowie eine neue Deckung aus Schiefer vonnöten war.

1998 begannen die Handwerker mit der Restaurierung der Außenwände des Kirchenschiffs, wo sie neben der obligatorischen Reinigung und Neuverfugung des Mauerwerks auch umfangreiche Verpress- und Vernadelungsarbeiten ausführen mussten. Um den Wassertransport über die Fundamente ins Natursteinmauerwerk dauerhaft zu unterbinden, wurde eine Horizontalsperre aus Hydrophobierungsmitteln und Schaummörtel eingebaut. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man sich ob der umfangreichen Schäden noch keine Gedanken über eine zukünftige Nutzung der Jakobikirche gemacht, die – soviel stand fest – nach Abschluss der Arbeiten nicht mehr als Lagerraum herhalten sollte. Da in Mühlhausen damals dringend neue Räume für die Stadtbibliothek gesucht wurden, war die Entscheidung schnell gefallen: Wie schon 1973 in der damaligen Nutzungsstudie vorgeschlagen, sollte nun endlich eine Bibliothek ins gotische Kirchenschiff einziehen.

Die Sanierungsarbeiten wa­ren zwar zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht abgeschlossen, doch konnten nun die Anforderungen an die neue Nutzung bereits berücksichtigt werden: So haben die Zimmerleute bei der Reparatur des bereits eingebrochenen Dachstuhls nicht nur die schadhaften Holzteile gesundgeschnitten und zimmermannsmäßig ergänzt, sondern auch ein neues Sprengwerk aus Holzleimbindern eingebaut. Dieses trägt heute die Lasten der im Dachraum eingebauten Bibliothekstechnik (Lüftungsanlage) zuverlässig ab.

Zuvor mussten die Handwerker jedoch erst einmal die umfangreichen Schäden am Holztragwerk beheben, was sich als komplizierte Aufgabe entpuppte, da nicht nur die Holzschwellen und -sparren des Dachstuhls verfault, sondern auch die darunterliegende Mauerkrone durch Wassereintrag und daraus resultierende Frostabsprengungen zerstört worden war. Zur Reparatur des Mauerwerks musste der Dachstuhl daher in Teilabschnitten mit einem Raumgerüst und hydraulischen Hebevorrichtungen um etwa einen halben Meter angehoben werden. Erst jetzt konnten die Maurer die nicht mehr tragfähigen Bereiche des Mauerwerks abnehmen, die Mauerkrone neu aufmauern und mit einer Bleibahn aus Walzblei abdichten. Darauf bauten die Zimmerleute anschließend den neuen Schwellenkranz auf. Weiterhin haben die Zimmerleute vor der Deckung des Dachstuhls auf jeder Seite des Daches die bereits bestehende Gaube durch zwei weitere neue Gauben ergänzt, um so die Zu- und Abluft der neuen Lüftungsanlage zu gewährleisten.

Umnutzung zur Bibliothek

Bei der Planung der Umnutzung war es die Aufgabe des Erfurter Architekten Hans Winkler, den Bestand von 80 000 Medieneinheiten auf einer Fläche von 1850 m2 im Kirchenschiff unterzubringen. Er löste diese durch drei neue Ebenen als „Implantat“ im alten Kirchenschiff sowie zwei sogenannte Funktionstürme, welche die Handwerker allesamt als Stahlskelettkonstruktion mit ausbetonierten Decken herstellten. „Durch die offene Staffelung von drei Ausleihebenen und zwei eigenständigen architektonischen Körpern, die als ‚Turm-Skulpturen‘ die Verwaltung aufnehmen, konnte ein lebendiger Umgang mit dem Denkmal gefunden werden“, erklärt der Architekt. „Die frei im Kirchenraum stehenden Ausleihebenen sind zwar mächtig, aber zierlich genug, um das Denkmal als noch mächtigeren Raum zu definieren.“

Die Umbauarbeiten begannen im Februar 2002 mit dem Einbau einer Spezialgründung. Die Mitarbeiter der Bilfinger Berger AG brachten insgesamt 127 Gewindestäbe jeweils 11 m tief in den Boden ein, so dass später jede neue Stahlstütze auf vier Gewindestäben steht. Hierfür bohrten die Handwerker zunächst ein entsprechendes Loch, ließen dann den Gewindestab ein und verfüllten das Loch mit Beton.

Nach der anschließenden Betonierung der Bodenplatte nahmen die Stahlbauer die Montage der beiden Funktionstürme und des freistehenden Stahlgerüstes in Angriff. Dafür mussten die Handwerker über 100 Tonnen Doppel-T-Träger ins Kirchenschiff transportieren – jedes Bauteil durfte dabei nur so groß sein, dass es noch durch das Portal der Jakobikirche passte. So verlagerten sich die Schweiß- und Montagearbeiten zum großen Teil ins Kirchenschiff, was sich als logistisch schwierige Aufgabe erweisen sollte. Insbesondere die Aufrichtung der einzelnen Elemente mit dem Gabelstapler erforderte äußerste Präzision. Nachdem das Stahlgerüst der drei Ausleihebenen und der beiden Funktionstürme fertig war, schweißten die Handwerker Baustahlmatten als Bewehrung in die Zwischenräume, montierten danach unterseitige Schalungen aus OSB-Platten und betonierten schließlich die Deckenfelder aus. Fußbodenheizung, Estrich, Trittschalldämmung und Teppich komplettieren den Bodenaufbau. Die Außenwände der beiden Funktionstürme wurden mit einer Trockenbaukonstruktion geschlossen und anschließend mit einer horizontalen Kiefernholzschalung beplankt.

Brandschutz

„Der Brandschutz stellte das größte planerische Problem dar“, erinnert sich Architekt Hans Winkler. „Anstelle einer brandtechnischen Abschottung der Ebenen entschieden wir uns für den Einbau einer Sprinkleranlage in Kombination mit einer Rauchabzugsanlage.“ Die Sprinkleranlage fand in abgehängten Decken Platz, die der Trockenbauer sowohl unter den neuen Betondecken der Stahlkonstruktion als auch unter der barocken Holzdecke des Kirchenschiffs installierte. Letztere verbirgt nun zwar die bemalte Decke, ließ sich jedoch aufgrund der Tatsache, das die gesamte Kirche feuerpolizeilich ein einziger Brandabschnitt ist, nicht vermeiden. Die Lüftungsanlage arbeitet zusätzlich im Brandfall als Entrauchungsanlage.

Zwischen den Funktionstürmen gelangt man auf der zweiten und dritten Ebene über schmale Stege zum Südturm, wo eine neue Stahltreppe im Treppenauge der alten Natursteintreppe (siehe Foto auf Seite 26) als Notausgang ins Freie führt. Ein weiterer Rettungsweg steht über nach innen zu öffnende Fluchtfenster in den originalen Maßwerkfenstern zur Verfügung (Bilder auf dieser Seite).

Fazit

Der Tradition der Kirchenumnutzung in Mühlhausen wurde durch die Stadtbibliothek in der Jakobikirche ein neues Kapitel hinzugefügt. Durch die neue Nutzung konnte auch diese Kirche „im Dorf“ bleiben. Die Stadt verfügt nun über die einzige Bibliothek, in der jeden Samstag Schlag 18 Uhr die Glocken läuten.

Baubeteiligte

 

Projektleitung:

Stadtverwaltung Mühlhausen, Amt für Hochbau und Gebäudeverwaltung, Dipl.-Ing.  Architekt Matthias P. Gliemann (Amtsleiter) und Dipl.-Ing. Stefan Zeuch

 

Planung Umnutzung:

Dipl.-Ing. Architekt Hans Winkler, Erfurt

 

Steinmetzarbeiten:

Denkmalpflege Mühlhausen GmbH & Co. KG, Mühlhausen

 

Zimmerarbeiten:

Zimmerei Wuchold, Erfurt

 

Dachdeckerarbeiten:

Kalbhenn & Müller GmbH, Küllstadt

 

Restaurierung Bleiverglasung:

Bau- und Kunstglaserei OPAL, Kühnhausen

 

Gründungsarbeiten und Betonierung Sohlplatte:

Bilfinger Berger AG, Arnstadt

 

Stahlbauarbeiten:

Leinetal Bau GmbH, Uder

 

Holzverkleidung Funktionstürme:

Möbeltischlerei Max Göbel & Söhne, Buttstädt

 

Brandschutzdecke:

Bauunternehmen Ferenc Vörös, Dachwig

 

Malerarbeiten Innenwände:

Malerwerkstätten Heinrich Schmid GmbH & Co. KG, Weimar

 

Malerarbeiten Chor:

Malermeister Andreas Waldhelm, Kefferhausen und Dipl.-Rest. Peter Jung, Weimar

 

Restaurierung Holztüren:

Meisterbetrieb Roland Mirsch, Udestedt

 

 

Herstellerindex

 

Fugenmörtel:

tubag, Kruft, www.tubag.de

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