Fenster in die Vergangenheit
Restaurierung und Umbau von Schloss Grimma

Dach, Fassade, Stützen und Träger: Die Anbauten im Schloss Grimma bestehen vollständig aus Glas. So geben sie den Blick frei auf die historischen Mauern des denkmalgeschützten Ensembles, die die Handwerker stabilisierten und behutsam mit der neuen Stahl-Glaskonstruktion verbanden.

Die Stadt Grimma im Südosten von Leipzig ist einer permanenten Bedrohung ausgesetzt: der Mulde, einem Nebenfluss der Elbe, dessen Pegel bei Hochwasser schnell steigt. Besonders verheerend wirkte sich die Flut 2002 aus: 700 beschädigte oder zerstörte Häuser, mitgerissene Straßen und Brücken. Auch das Schloss, das direkt am Flussufer im Norden der Innenstadt liegt, stand unter Wasser. Ein Großteil des denkmalgeschützten Ensembles musste danach geräumt, entschlammt und die Hochwasserschäden beseitigt werden. In den Folgejahren hat man das Schloss für rund 14,5 Millionen Euro saniert, umgebaut und um drei filigrane Glasanbauten erweitert. In die neuen Räume zogen das Amtsgericht Grimma und eine Zweigstelle der Staatsanwaltschaft Leipzig ein. Im März 2013 übergab man das Schloss nach zehn Jahren Planungs- und Bauzeit den neuen Nutzern – drei Monate später stand es erneut unter Wasser. Die Flut hatte wieder zugeschlagen.

Das neue Foyer, wie es die Fotos zeigen, ist heute abermals Baustelle: Der Pförtnertresen und die Poststelle wurden vom Wasser zerstört, der Boden lagert als Bauschutt vor dem Eingang. Die Sanierung wird Jahre dauern. Immerhin: Die angrenzenden Glasanbauten wurden verschont, ebenso die Obergeschosse des Bestands.

Spuren der Geschichte

Schloss Grimma hat nicht nur das Wasser überdauert: Überall im Schloss finden sich Spuren seiner Geschichte. Ab dem 13. Jahrhundert diente es sächsischen Marktgrafen und Kurfürsten als Sommerresidenz. Anfang des 19. Jahrhunderts zog eine Textilfabrik ein, später nutzen Soldaten die Räume als Exerzierböden. Noch im selben Jahrhundert begann der Umbau zum Amtsgericht. Heute setzt sich das Ensemble im Wesentlichen aus zwei Baukörpern zusammen: dem eigentlichen Schloss im Ostflügel, dessen Mauern zum Teil noch aus der Spätromanik stammen, und dem Kornhaus gegenüber, das zusammen mit einem Anbau und einer Turmruine den im 14. Jahrhundert erbauten Westtrakt bildet. Schildmauern verbinden beide Gebäude und begrenzen den Schlosshof.

Bei der Sanierung stieß man auf bauhistorisch wertvolle Funde, die bis 1220 zurückreichen. Sie wurden gesichert beziehungsweise restauriert und für Besucher effektvoll inszeniert: Sichtfenster in Böden und Wänden gewähren den Blick in die Vergangenheit, etwa auf eine spätromanische Kaminkonsole oder eine Treppe, die man in der Westwand des Kornhauses entdeckte.

Neue Holzfenster, Außentüren und nachträglich gedämmte Fensterlaibungen verbessern die Energieeffizienz beider Flügel. Der Ostflügel wurde weitgehend entkernt und die Fachwerkwände aus dem 19. Jahrhundert wegen mangelnder Tragfähigkeit und ungenügendem Schall- und Brandschutz durch Mauerwerks- und Trockenbauwände ersetzt. Die historischen Balkendecken konnten zum Teil als Holzbetonverbunddecken statisch ertüchtigt werden. Den spätgotischen Nordgiebel hat man restauriert, ebenso die gotischen Lanzettfenster an der Ostwand sowie historische Innen- und Außentüren. Eine neue Treppenanlage mit Aufzug erschließt die Sitzungssäle in den drei unteren Geschossen.

Bierlasur an der Decke

Noch stärker blieb der historische Charakter im Kornhaus mit seinem baugeschichtlich wertvollen Bestand erhalten: Unterzüge verstärken die bestehenden Holzbalkendecken, der Dielenboden wurde restauriert und neu verlegt. Im historischen Sitzungssaal rekonstruierte Restaurator Volkmar Voigt die gründerzeitliche Wand- und Deckenfassung. „Die Holzdecke war mit grauem Kunstharzanstrich überzogen“, erinnert sich Voigt. Um den Originalzustand zu analysieren, legte er eine 2 m2 große Probeachse frei. Das Ergebnis: Die schiffsgekehlten Eichenbalken waren unter der Farbschicht dunkler als die Füllungsbretter und mit blauen Zierlinien geschmückt. Die Balken stammen aus der Renaissance und laufen über die gesamte Hausbreite. Als man um 1890 Trennwände einzog, wurden sie im Stil des Historismus „eingeschnitzt und verziert“, später komplett in Grau überstrichen. Da es zu aufwendig gewesen wäre, den mehrlagigen Anstrich abzutragen, übermalte Voigt die Holzdecke mit einer Bierlasur und stellte so das Deckenbild samt Maserung originalgetreu wieder her. Die Bierlasur ist eine historische Technik, bei der die Farbpigmente in Gerstensaft gelöst werden. „Die Lasur enthält viel Zucker und klebt schön, so dass sich damit sehr gut malen lässt.“

Beim Freilegen der mit Dispersionsfarbe überstrichenen Wände stieß der Restaurator auf einen umlaufenden, rund 40 cm hohen, nur noch in Teilen erhaltenen Wand- und Deckenfries. Anhand der freigelegten Befunde malte Voigt den Fries neu auf. Dazu legte er durchsichtiges Papier auf, durchstach es mit Strichen und überpuderte die Fläche mit Kohlenstaub. „Der Staub dringt durch die Löcher und zeichnet die Konturen des Frieses auf der Wand ab.“ Für den Anstrich verwendete der Maler historische Kaseinfarben, da sie lange haltbar und farbecht sind. Auch am Wandsockel fand Voigt eine illusionistische Bemalung, nach deren Vorbild ein Innenausbauer eine Vertäfelung zimmerte, die Kabel und Lüftungsauslässe aufnimmt.

Das Ziel: maximale Transparenz

Zwischen den Bestandsbauten fügten die Architekten drei Ganzglaskonstruktionen ein, die die unterschiedlichen Gebäudeteile verbinden: Treppenturm, Gang und Foyer. „Unser Ziel war maximale Transparenz: Nicht nur Dach und Fassade sollten durchsichtig sein, sondern auch das Tragwerk selbst“, sagt Bauleiter Pedro Goretzki von der für die Architektur und Bauleitung zuständigen Bauconzept Planungsgesellschaft.

Für das neue Foyer zwischen Kornhaus, westlicher Schildmauer und Turmruine entwarfen die Planer einen gläsernen Trägerrost mit quadratischem Raster, der den Raum stützenfrei überspannt. Zwischen den 7 m langen Hauptträgern sind im Abstand von 1,4 m Nebenträger eingehängt. Die 35 cm hohen Träger bestehen aus 6 cm dickem Verbundsicherheitsglas (VSG). Je vier Scheiben heißgelagertes Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG-H) wurden mit Spezialfolien zu einem Glasträger verklebt. Die kurzen Träger klemmen in U-förmigen Edelstahlwinkeln und sind mit den Hauptträgern verschraubt. Randträger aus Stahl verankern die Konstruktion mit den Umfassungsmauern. Werkplanung, Herstellung und Montage aller Stahl- und Glasbauteile übernahm die Hunsrücker Glasveredelung Wagener GmbH & Co. KG. Die Handwerker mauerten die Stahlkonsolen – halbe HEA-Profile mit Fußplatten – kraftschlüssig in die Bruchsteinmauern des Bestands ein. So bleiben die historischen Wände unverstellt.

Stabilität für die Ruine

An das Foyer dockt im Norden ein gläserner Treppen- und Aufzugsturm an und erschließt die Behördenräume im Kornhaus. Auf der gegenüberliegenden Seite restaurierten die Handwerker die spätgotische Turmruine. „Auf den Begrenzungsmauern wuchs Unkraut, die Mauern waren ausgewaschen und mit Hohlstellen durchsetzt“, blickt Pedro Goretzki zurück. Die Ruine wurde zunächst statisch gesichert. Dazu bohrten die Handwerker in 4 beziehungsweise 8 m Höhe umlaufend Löcher durch die bis zu 3 m dicken Mauern, brachten Bewehrungsstähle ein und verfüllten die Hohlräume mit Beton. Zusätzlich stabilisierten sie das Mauerwerk in Foyer und Ruine mit rund 70 Tonnen Verpressmörtel. Über Druckschläuche pressten sie den Mörtel durch Packer – in die Wand geschraubte Kunststoffports – ins Mauerwerk, wo er sich gleichmäßig verteilte und das poröse Steingefüge zusammenhält. An den Oberkanten der Ruine trugen die Handwerker Humus und Grünzeug ab und brachten zum Schutz gegen neu eindringende Feuchtigkeit eine Bleiabdeckung auf. Anschließend mauerten sie das abgetragene und gereinigte Mauteiral wieder auf, um den historischen Charakter der Ruine zu wahren.

Innerhalb der Umfassungsmauern nimmt ein freistehender, mit Gipsträgerplatten und Holzfolie verkleideter Betonkubus eine Poststelle und eine barrierefreie Toilette auf. Die Fuge zwischen Kubus und Ruinenmauern überdeckt ein umlaufendes Glasdach. Die Glasschwerter, die die Verglasung tragen, sind an einem Stahlkranz am Ruineneinbau befestigt. Hierzu dübelte die Glas- und Stahlbaufirma einen umlaufenden Kranz aus gewalzten U-Profilen auf die Attika des Betonkubus. An den Ruinenmauern halten geschweißte Winkelprofile die Glasschwerter. Sie wurden, wie im Foyer, an Stahlkonsolen montiert, die in die Mauern der Turmruine eingemörtelt sind. Um das Mauerwerk zum Glas hin abzudichten, schlitzten die Handwerker eine Bleiverwahrung in die Natursteinwand, die sie dauerelastisch verfugten. Das Regenwasser läuft dank einer dahinter montierten Blechaufkantung über Glasdach und Kubus ab.

Von der Ruine führt ein 25 m langer und 2,5 m breiter Glasgang Mitarbeiter und Besucher wettergeschützt hinüber ins Schloss. Dach, Fassade, Stützen und Träger bestehen vollständig aus Glas, so dass man vom Hof durch den Gang hindurch direkt auf die historische Schildmauer guckt. Das Tragwerk bilden 17 Halbrahmen aus VSG, die jeweils aus einer Glasstütze und einem -schwert bestehen. Während die Stützen am Fußpunkt an der Stahlbetonrampe befestigt sind, wurde das obere Auflager in die Schildmauer eingelassen und vermauert. Am Knotenpunkt greifen die Halbrahmen wie Nut und Feder ineinander und sind mit einem hochfesten, lastabtragenden Acrylat-Klebstoff verbunden. Die innovative Klebverbindung wurde extra für das Projekt an der TU Dresden entwickelt und geprüft, alle Beteiligten betraten dabei bauaufsichtliches Neuland. Die Fertigung und Montage der Glasträger war äußerst komplex: Wegen der Krümmung der Schildmauer und des ansteigenden Hofniveaus weisen sämtliche Glasträger und -schwerter unterschiedliche Maße auf. Die Toleranzen glichen die Handwerker über Langlöcher und frei justierbare Stahlbolzen in den Anschlusskonsolen aus.

Auch die Fassade hält eine Klebverbindung aus Silikon, die das komplette Eigengewicht der Außenhülle abträgt und – wie acht weitere Glaskonstruktionen – einer Zustimmung im Einzelfall bedurfte. Der lichte Glasgang reizt den Grad der Transparenz vollständig aus und rückt so den historischen Bestand in den Blick.

Autor

Dipl.-Ing. Michael Brüggemann studierte Architektur in Detmold und Journalismus in Mainz. Er arbeitet als Redakteur und schreibt außerdem als freier Autor unter anderem für stern, DBZ, bauhandwerk und dach+holzbau.

„Die Lasur enthält viel Zucker und klebt schön, so dass sich damit sehr gut malen lässt“

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