Respekt vor der Substanz

Dem ehemaligen Maschinenhaus einer Zwirn- und Nähfadenfabrik in Augsburg drohte bereits die Abrissbirne. Quasi in letzter Minute rettete das Denkmalamt das Fabrikgebäude aus dem 19. Jahrhundert, in dessen original erhaltener Industriearchitektur heute ein kreatives Medienunternehmen angesiedelt ist.

Wie so viele verkannte Industriebauperlen des vergangenen Jahrhunderts war auch im Augsburger Stadtteil Göggingen ein schützenswertes Gebäudeensemble einer ehemaligen Zwirn- und Nähfadenfabrik in tiefen Dornröschenschlaf versunken. In den letzten Jahren als günstiger Lagerraum genutzt, sorgte sich niemand um den historischen Bestand und die bewegte Geschichte dieses Kleinods. Ursprünglich ragte aus dem Mitteltrakt sogar ein hoher Kamin, über den die Abgase der 600 PS starken Dampfmaschine ins Freie gelangten, die bis 1949 in der nördlich anschließenden Maschinenhalle untergebracht war und die Fabrik mit Energie versorgte. Der legendäre Industriebaumeister Philipp Jakob Manz hatte beide Gebäu­de­teile im Jahr 1911 dem bereits vorhandenen Hallenbau aus dem Jahr 1889 hinzugefügt, in dem angeblich vor hundert Jahren der erste liegende MAN-Dieselmotor angelaufen sein soll. Allerdings weiß man heute nicht mehr, auf wen der Entwurf dieses länglichen Gebäudetraktes mit seinen ungewöhnlichen Rundfenstern und dem filigranen Dachtragwerk zurückgeht.

 

Vom Aschenputtel zur Prinzessin

Obwohl das gesamte dreiteilige Ensemble nach seiner ursprünglichen Nutzung als Energiezentrale über lange Zeit nur eine nachlässige Fürsorge erfahren hatte, zeigte es sich von erstaunlich guter Substanz, als es der Unternehmer Michael Kießling im Jahr 2006 erstmals in Augenschein nahm. Es war überhaupt ein Glück, den historischen Komplex noch im fast originalen Zustand vorzufinden, denn nach seiner letzten Nutzung als Hochregallager hatte die Abrissbirne quasi schon Schwung geholt, bevor das Denkmalamt darauf aufmerksam geworden war und es in letzter Minute unter seinen Schutz stellte. Was jedoch nicht half, dem Industriebau neues Leben einzuhauchen – mehrere Anläufe, Gastronomie anzusiedeln oder Büros unterzubringen, scheiterten. Am Ende stand der Verkauf, und der Unternehmer Kießling schlug zu. Er hatte sich nämlich zuvor gemeinsam mit seinem Architekten Paulus Eckerle vergewissert, welches Potenzial in dem Bau steckte, auch gerade weil die versuchten Umnutzungen erfolglos blieben, und somit der ursprüngliche Charakter innen wie außen auch diese letzte Phase der ungewissen Existenz überdauert hatte. Nach dem Willen des Bauherrn und seines Architekten sollte auch der geplante Umbau zum Verlagsgebäude daran nichts ändern: „Neue Elemente sollten auch als solche erkennbar und vom Bestand entkoppelt sein“, begründete Paulus Eckerle sein sensibles Sanierungskonzept, den imposanten Eindruck des hohen, fast schon sakral wirkenden Raumes zu erhalten und ihm sämtliche erforderliche Einbauten unterzuordnen. 


Behutsame Eingriffe in F15

Dort, wo früher die alte Dampfmaschine laut vor sich hin stampfte und der Gestank heißen Maschinenöls das Atmen in der Halle erschwerte, hört man heute lediglich das Klicken von Tatstaturen, begleitet von leisem Stimmengewirr, ab und an übertönt vom Läuten der Telefone. Trotzdem ist das alte Maschinenhaus und sein industrieller Zweck allgegenwärtig: Von überall einsehbar sind im Gebäudeteil F15 die originale, mit Stahldrähten am Pfettendachstuhl abgehängte opulente Stuckdecke, die alte, noch voll funktionsfähige Kranbahn einschließlich Laufkatze und daran baumelnder Kette sowie die hohen, komplett erneuerten und isolierverglasten Holzfenster mit äußerst filigranen Profilen. Dem entgegen stehen die neuen Einbauten wie die Bürozellen, zum Flur hin abgeteilt mit Trennwänden aus Glas und die Raumakustik optimierenden Ahorn-Holzpaneelen. Zwischen den Bürozellen stehen Schrankelemente, deren Oberflächen ebenfalls dazu beitragen, den Nachhall in dem hohen Gebäude zu begrenzen. Drei auffallende „Installationen“ prägen den Raum: Erstens der markant in den Luftraum der Halle ragende, etwa 16 Quadratmeter große Besprechungsraum, aufgestelzt auf schlanken Stahlstützen und über eine filigrane Naturstein-Keilstufentreppe zugänglich. Zum zweiten der 1,3 Meter hohe, archaische Kalksteinblock, der nahezu unverän­dert vom Steinbruch weg den Eingang in das Medienunternehmen fand und den Mitarbeitern als eine Art Werkbank für neue Ideen dienen soll. Einen zusätzlichen Ansporn liefert womöglich die dritte Besonderheit, die in neun Metern Höhe unter der Stuckdecke hängt – das von roten Schwüngen auf rationalem Blau durchzogene Deckengemälde „Kommunikation“. Ein Werk des renommierten Rottweiler Künstlers Tobias Kamme­rer, das zu visualisieren versucht, was in und zwischen Menschen vorgeht, die Informationen untereinander austauschen – Ratio und Emotion, Dynamik, Aktivität, Überlagerung, Unterbrechungen und Beständigkeit.  


Dekorationsmalereien in F16

Die teilweise mit Glasmalereien geschmückten, einfachverglasten Stahlbogenrundfenster in Gebäude F16, immerhin hundert Jahre alt, befreiten die Handwerker von Dreck und Rost und überstrichen die schlanken Profile mit grauer Farbe. Um dem Wärmeschutz zu genügen, wurde innenseitig eine zweite Glasebene montiert und mit Isolierglasscheiben versehen. Genau an der gegenüberliegenden Wand dann das Kontrastprogramm: Schmale, vertikale Fensterschlitze, die spannende Lichteffekte hervorrufen und doch wesentlich die Lichtverhältnisse in dem ansonsten nur einseitig befensterten Raum verbessern. Sie sind der einzige maßgebliche Eingriff in dem ältesten Gebäudetrakt des unversehrt gebliebenen Ensembles, dessen Außenwandoberflächen – man staune – innenseitig mit floralen Dekorationsmalereien verziert worden waren. Malereien in einer Industriehalle? Diese Entdeckung warf doch einige Rätsel über die tatsächliche Nutzung der Halle auf. War sie ursprünglich womöglich gar nicht als Maschinenhalle gedacht, sondern sollte zu Präsentationszwecken, als Kantine für die gehobenen Angestellten oder gar als Ballsaal genutzt werden? Keinesfalls wollte man diese unverfälschten Dokumente aus der Entstehungszeit zerstören und hinter Putzflächen verstecken. Also entschied man sich, die in drei zeitlich versetzten, leimgebundenen Anstrich-Fassungen aufgetragenen Friese sorgsam zu restaurieren, zu konservieren und in sogenannten Zeitfenstern ausschnittweise sichtbar zu belassen. Dafür bot sich die Ostwand an, weil hier die Malereien am besten erhalten waren. Nach der vorsichtigen Entfernung von Staub und Schmutz mit der Bürste wurden die Oberflächen mit Fixier- und Verdünnungsmittel verfestigt. Danach trugen die Restauratoren ganzflächig – die Zeitfenster natürlich ausgenommen – eine reversible, schlämmende Grundbeschichtung auf, besserten die Putzschäden aus und überfassten die Flächen wiederum mit dem Fixier- und Verdünnungsmittel. Dieser zweite Anstrich in einem gebrochenen Weißton ist ebenso wie die darunter aufgebrachte Schlämme wieder vollständig abnehmbar – die Malereien sind also bei Bedarf jederzeit zugänglich.

 

Liebe zum Detail im Team

Bauherr, Architekt und alle beteiligten Handwerker bewiesen bei dem Projekt großen Respekt vor der Substanz und gingen äußerst behutsam bei ihrer Arbeit zu Werke. Die Trennwände der Büros zum Beispiel sind nur eingestellt und können jederzeit wieder entnommen werden. Die Sockelheizung und Elektrifizierung verlaufen beide zusammen in einem Brüstungskanal, um die Originalsubstanz weitestgehend zu schonen und Schlitze und Durchbrüche zu vermeiden. Auch die Zusammenarbeit mit der Denkmalbehörde lief weitgehend problemlos, nur bei einigen Details kam es zu kleineren Diskussionen. Ein besonderes Lob zollte der Architekt den Handwerkern, von deren Zuverlässigkeit, Können und Flexibilität aus seiner Sicht letztlich der Erfolg des gesamten Unternehmens abhing. Ablesbar ist dies unter anderem an den ungewöhnlichen Highlights wie dem Besprechungstisch, den Keilstufentreppen der Außeneingänge und der in den Schornsteinstumpf integrierten Toilette – hier war die Liebe zum Detail bei allen Beteiligten unverkennbar.


Rettung in letzter Minute – die Abrissbirne hatte quasi schon Schwung geholt

Wo früher die alte Dampfmaschine stampfte

klackern nun leise die Tatstaturen

Pläne

HIer finden Sie den Grundriss des Erdgeschosses der ehemaligen Maschinenhalle sowie einen Längs- und einen Querschnitt des Gebäudeteils F15

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