Umnutzung eines Kirchturms in Freiburg für öffentliche und private Zwecke

Mit dem Umbau eines 22 m hohen ehemaligen Kirchturms in Freiburg im Breisgau wurde ein architektonisches Zeugnis des Brutalismus gerettet. Seine über fünf Etagen verteilten 200 m2 Fläche sollen künftig unterschiedlichen öffentlichen und privaten Nutzungen dienen.

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Seit Jahren schweigt die Glocke, und in der Kirche wird keine Messe mehr gelesen. Doch der Turm ist in Freiburg im Breisgau immer noch da. Ungenutzt, nur Vögeln ein Heim. Doch auch das Vergessen-Sein ist nicht von Dauer. „Ich habe den Turm gesehen und war sofort Feuer und Flamme“, sagt Ingrid Maria Buron de Preser, Filmarchitektin und Designerin, die die Umnutzung des verlassenen Kirchturms als Bauherrin, Planerin und Bauleiterin betreute. 2014 hatte Ingrid Buron den Turm in Freiburgs Offenburger Straße entdeckt. Zwei Jahre dauerten die Vorarbeiten, 2016 begann die konkrete Planung und 2018 war Baubeginn.

Brutalismus hat nichts mit „brutal“ zu tun

Ursprünglicher Erbauer der Kirche St. Elisabeth mitsamt ihrem Turm war Rainer Disse, einer der wichtigsten Kirchenarchitekten im deutschen Nachkriegssüdwesten. Der Egon Eiermann-Schüler errichtete die Kirche in den Jahren 1962 bis 1965 im Stil des Brutalismus. Dieser oft missverstandene Baustil hatte sich – vor allem bei öffentlichen Bauten – ab den frühen 1960er Jahren weltweit durchgesetzt. Seine Protagonisten waren Architekten, die vom Krieg – nicht selten von zweien – geprägt waren. Mit ihren rohen, unverkleideten Betonbauten versuchten sie, moderne, kühne, klare Entwürfe in die vom Krieg zerstörten Städte zu bringen. Sie wendeten sich damit gegen einen kleinbürgerlichen, die Geschichte verklärenden Wiederaufbau im Zeichen des Kitsches. Die neuen Gebäude sollten höchst pragmatisch, sozial und demokratisch sein. Der Brutalismus war ein politisches Projekt. Der Name hat im Übrigen nichts mit Mitleidlosigkeit zu tun, sondern leitet sich vom französischen „béton brut“ her, dem rohen, unverputzten Baustoff.

Kein grober Klotz

Es ist ein klassisches Erzählmotiv: Der vermeintliche Unhold entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als zartfühlendes Wesen. So ist es auch bei vielen als „Beton-Monster“ geschmähten Bauten des Brutalismus. Ihre sublimen Qualitäten offenbaren sie erst auf den zweiten oder gar dritten Blick. St. Elisabeth war ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch des Baustils: unverputzt gemäß dem Prinzip der sichtbar gemachten Konstruktion, ungeschmückt im Sinne von nicht elitär, kompromisslos modern mit entschiedenem Gestus gegen alles Historisierende. Wobei die vertikalen Abdrücke der Brettschalung dem rohen Betonkörper eine Textur verleihen, die das Aufwärtsstrebende des Turms mit fast schon an die Gotik erinnernder Emphase in Szene setzt.

St. Elisabeth war ein Kind ihrer Zeit. Aufs Wesentliche konzentriert. Das Kirchenschiff: ein Quader mit Flachdach. Dazu ein freistehender Turm. Alles äußerst reduziert, fast schon asketisch, ohne jeden Zierrat. 2006 wandert die Kirchengemeinde endgültig in die benachbarte Kirche St. Konrad ab. St. Elisabeth wird profaniert und steht leer. Verschiedene Umnutzungsversuche scheitern, ehe das Kirchenschiff unter dem eigenwilligen Projektnamen „Church-Chill“ in einen Wohnbau umgenutzt wird. Der ursprüngliche Baukörper wird hierfür um zwei Etagen aufgestockt. Die West- und die Ostfassade bleiben weitgehend erhalten, die beiden anderen werden großflächig geöffnet. Das Pfarrhaus muss weichen, die Appartements werden 2013 verkauft, eines davon geht an Gregor Disse, den Sohn des Architekten. Und der Turm? Den scheint das alles nichts anzugehen. Lediglich seine Glocke muss er hergeben.

Doch dann überzeugt Ingrid Maria Buron de Preser die Stadt und die Landesdenkmalbehörde, Gregor Disse und die Immobilienfirma, die das Kirchenschiff umgestaltet hat. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem im Sommer 2019 verstorbenen Fotografen Gerd Preser, erforscht sie den Turm und klopft ihn auf künftige Nutzungsmöglichkeiten ab, wobei sie die Idee, die dem Bauwerk zugrunde liegt, achtet. Es muss zwar im Kontext seiner neuen Nutzung weitergedacht werden, aber ohne Verrat an seiner ursprünglichen Idee zu üben. Rainer Disses Turm soll „leben“. Es geht um „die Bewahrung der Schönheit“. So wird Buron de Preser ihr Umbau- und Sanierungsprojekt schließlich nennen. Im August 2018 geht es los.

7,5 m hohe Einschnitte bringen Licht ins Dunkel

Der monolithische Quader von 7 m x 7 m Grundfläche und 22 m Höhe ist fensterlos. Lediglich vier schmale Lichtschlitze verwandeln das Dunkel der Glockenstube in Dämmerung. Diese Spalten müssen verbreitert werden. Zudem ist es unumgänglich, in den anderen vier Stockwerken Fenster einzuschneiden. Die Ausweitung der Lichtschlitze auf 40 cm breite, bodentiefe Fenster ist ein beeindruckendes Unterfangen. Im nahen Simonswald wird der Spezialbetrieb Karlheinz Hug gefunden. Der setzt schienengeführte und handgeführte Diamantsägeblätter ein und vollbringt das Kunststück, 7,5 m lange Stelen an einem Stück aus den massiven Betonwänden zu schneiden und diese dann auch noch durch das kleine Oberlicht in der Decke der Glockenstube zu manövrieren. Dank einer besonders erschütterungsfreien Technik gelingen die Schnitte bis zu einer Wanddicke von 65 cm nahezu ohne Toleranzen.

Auf die Betonschneider folgen weitere Gewerke; Fenster werden eingebaut, manche Räume mit einer Innendämmung versehen, Böden geschliffen, Elektrik- und Sanitäreinrichtungen installiert. Knifflig wird es nochmals, als der Treppenschacht eingebaut wird. Er verändert die Statik des Turms und verlangt Ausgleichsmaßnahmen an anderer Stelle.

Architektur als Ladestation

Die Erdgeschosskapelle, der einzige in der Vergangenheit kontinuierlich genutzte Raum, wird noch immer vom schmucklosen monolithischen Altarstein dominiert. Daneben prägen heute aber eine einladende Tafel, eine kleine offene Küche, ein Sanitärraum, der Zugang zum Treppenhaus und in etwa 3 m Höhe ein Alkovenzimmer den Raum. Das alles kontrastiert stark mit den rauen Betonwänden und den 1,5 m x 1,5 m großen Marmorfliesen.

In den nächsten drei Stockwerken des ehemaligen Kirchturms befinden sich je 40 m2 große Gästezimmer. Da der Blick durch die neu eingeschnittenen Fenster im Süden und Osten auf große alte Bäumen fällt, fühlt man sich hier wie in einem Baumhaus. Der Ausbau und die Gestaltung dieser Räume unterstützen diesen Eindruck. Die Wände sind teilweise von Künstlerinnen bemalt, die Räume zwar spärlich aber ausgesucht möbliert, wobei den Sichtachsen hinaus ins Grün große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Denn diese Zimmer sollen Kraft-Orte sein. Refugien für Menschen, die zur Ruhe kommen wollen, die ihre Batterien aufladen möchten. Wohn- und Arbeitsorte auf Zeit. Darüber hinaus plant Buron de Preser, den Turm zu öffnen für Menschen mit Interesse an Architektur und Kunst. So soll der massive Betonquader in einen Ort der Leichtigkeit transformiert werden. Ausstellungen, Lesungen und Empfänge könnten vor allem die einstige Kapelle und die Glockenstube beleben.

Offenes Feuer in der Glockenstube

Von der boden-schweren Erdgeschoss-Kapelle führt die Treppe über 63 Stufen bis in die ehemalige Glockenstube. Der überstreckte Raum hat eine Grundfläche von 6,5 x 6,5 m, und von seinem dunklen, glattgeschliffenen Betonboden bis zur Decke sind es 8 m, die vom endlos lang erscheinenden Rauchrohr der freihängenden, offenen Feuerstelle noch betont werden.

Der Raum hat seine sakrale Atmosphäre behalten. Obwohl an die südliche Wand gerückt, verleiht der Kamin dem Raum einen Mittelpunkt. Wie die Feuerschalen antiker Tempel oder das ewige Licht in einer Kathedrale erinnert die Inszenierung an das Verhältnis des Feuers zum Sakralen.

Ingrid Maria Buron de Preser hat das Feuer hier sehr bewusst in Szene gesetzt: „Ein offenes Feuer im Haus ist für mich die Basis, der Anfang von allem.“ Mit der Firma Benz Ofenbau aus Ohlsbach fand sie einen technischen Partner, der ihre Wünsche verstand. So konnte der freihängende, drehbare Designklassiker Gyrofocus auch mit einem 7,5 m langen Rauchrohr von der Decke abgehängt werden.

Fazit

Der vor einem Jahr abgeschlossene Umbau des Turms ist eine beeindruckende Hommage an den „béton brut“. Nun dürfen sie kommen – die Kunst- und Architekturfreunde, die Gäste, auch wenn noch nicht alle Arbeiten abgeschlossen sind, denn auf dem Flachdach soll noch eine Terrasse entstehen, die nicht nur begehbar, sondern bepflanzbar sein wird.

Im Moment überwiegt die Erleichterung, dass die Verwandlung des Turms gelungen ist. Vielleicht ist das auch der geeignete Moment darüber nachzudenken, nicht nur die „Betonmonster“ zu retten, sondern auch den Geist, dem sie entstammen, neu zu entdecken: ehrlich, solidarisch, einer besseren Zukunft zugewandt.

Autorin

Beate Reichert-Klaus verantwortet die PR der Firma Focus - Atelier Dominique Imbert, Viols le Fort (Frankreich), in Deutschland.

Baubeteiligte (Auswahl)

 

Planung

Ingrid Maria Buron de Preser, Freiburg i.Br.

 

Betonschnitte

Karlheinz Hug, Simonswald, https://derbetonsaeger.de

 

Ofensetzer

Benz Ofenbau, Ohlsbach, www.benz-ofenbau.de

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