Das spezifische Wachstumsmodell für Schimmelpilze
Während sich der erste Teil des Beitrags zu Schimmelpilzen in bauhandwerk 4.2025 mit den größten Fehlern in der Schimmelpilzsanierung beschäftigte, stellen wir im zweiten Teil das spezifische Wachstumsmodell für Schimmelpilze vor.
Matrix eines generischen Wachstumsmodells
Abbildungen: Frank Frössel
Bei der Untersuchung und Bewertung von Schimmelpilzen in Innenräumen wird in der Regel von einem generischen Wachstumsmodell unter stationären Randbedingungen ausgegangen. Dies bedeutet, dass sich Schimmelpilze auf Bauteiloberflächen bilden und vermehren, wenn über einen längeren Zeitraum ausreichend Feuchtigkeit vorhanden ist und auch die anderen Einflussfaktoren für ein optimales Wachstum wie Temperatur, pH-Wert und Nährstoffe gegeben sind. Dieses generische Wachstum wird oft über eine Wachstumsmatrix dargestellt (siehe Abbildung).
Allerdings ignoriert diese, dass in Innenräumen unterschiedliche Schimmelpilzarten vorkommen (so genannte Mischexpositionen) und diese unterschiedlich viel Feuchtigkeit für ihr Wachstum benötigen.
Wasseraktivität
Des Weiteren ist nicht die Gesamtfeuchte des Materials entscheidend, sondern nur das für die Schimmelpilze „frei“ zur Verfügung stehende Wasser. Hierbei handelt es sich um den Wassergehalt in den Poren an der Bauteiloberfläche, der nicht durch lösliche Substanzen wie Salze, Eiweißstoffe oder auch Kohlenhydrate gebunden ist. Für diesen frei verfügbaren Teil des Wassers im oberflächennahen Bereich wurde die Kenngröße der Wasseraktivität eingeführt (kurz aw-Wert). Dieser definiert sich als der Quotient des Wasserdampfdrucks im beziehungsweise auf dem Substrat und des Sättigungsdrucks des reinen Wassers bei gleicher Temperatur. Häufig wird behauptet, dass sich der aw-Wert ergibt, wenn die relative Luftfeuchte durch 100 geteilt wird. Dies ist nicht ganz korrekt, da der aw-Wert eben auch von der chemischen Zusammensetzung und Temperatur sowie dem pH-Wert des Substrates abhängig ist. Deshalb entspricht in der Praxis ein aw-Wert an der Materialoberfläche nur annäherungsweise dem hundertsten Teil der relativen Luftfeuchte.
Der Lebenszyklus und die einzelnen Wachstumsphasen von Schimmelpilzen wie Sporenkeimung, Wachstum und Produktion von Mykotoxinen benötigen jeweils einen unterschiedlichen aw-Wert. In der Regel erfordert die Bildung von Konidien sowie die vegetative oder sexuelle Sporenbildung einen höheren aw-Wert als zum Beispiel das Wachstum des Myzels und die Sporenkeimung. Relativ unbekannt ist, dass Mykotoxin bildende Schimmelpilzarten in der Phase der Toxinproduktion in der Regel einen höheren Wasserbedarf haben als zum Beispiel während der Phase, wenn das Myzel wächst. Dies bedeutet, dass die Mykotoxine erst bei höheren aw-Werten produziert werden.
Einen Einfluss auf den aw-Wert hat zudem die optimale Wachstumstemperatur, die ebenfalls von Schimmelpilz zu Schimmelpilz unterschiedlich sein kann. Mikrobiologisch erwiesen ist, dass ein Auskeimen der Sporen und Konidien im Bereich der Optimaltemperatur am größten ist. Dies bedeutet, dass die Wasseraktivität steigt, sobald sich die Umgebungstemperatur erhöht oder fällt. Allgemein kann man feststellen, dass die Keimungsrate von Schimmelpilzsporen bei jeder Temperatur sinkt, wenn die Wasseraktivität abnimmt. Außerdem kann man beobachten, dass sich der Temperaturbereich für das Wachstum von Schimmelpilzen bei einem niedrigen aw-Wert nach oben verschiebt.
Neben den Unterschieden des aw-Wertes innerhalb eines Lebenszyklus haben auch die unterschiedlichen Schimmelpilzarten eine unterschiedliche Wasseraktivität. Dies muss immer berücksichtigt werden, wenn „allgemein“ davon gesprochen wird, dass die meisten Schimmelpilze einen aw-Wert von etwa 0,85 haben. Einige hydrophile Arten bevorzugen ein sehr feuchtes bis nasses Umfeld (aw-Wert > 0,9). Andere xerophile Arten wiederum kommen mit deutlich weniger Feuchtigkeit für ihr Wachstum aus (aw-Wert < 0,7). Hierbei ist zu beachten, dass es um die Untergrundfeuchtigkeit geht und nicht um die relative Luftfeuchte in der Raumluft! Hierzu muss bekannt sein: Schimmelpilze können sowohl aus dem Substrat (Untergrund) als auch aus der Luft Feuchtigkeit aufnehmen – und dies als Wasser beziehungsweise Wasserdampf. Schimmelpilzsporen zum Beispiel nehmen während des Keimens die Feuchte aus der unmittelbaren Luft auf, während das nach der Keimung gebildete Myzel auch Feuchte aus dem Substrat aufnehmen kann. Infolgedessen muss bei der Bewertung innenraumklimatischer Wachstumsbedingungen immer auch das materialspezifische Feuchteverhalten der Untergründe und somit das Absorptions- und Desorptionsvermögen der Baustoffe sowie deren Wasserdampfdiffusionsfähigkeit betrachtet werden.
Temperaturspektrum
Temperaturspektrum der Schimmelpilze (der farbige Bereich kennzeichnet die Optimaltemperatur)
Abbildung: Frank Frössel
Ähnlich verhält es sich bei der Temperatur. Eine der wesentlichen Überlebensstrategien der Schimmelpilze liegt in ihrer Fähigkeit, in einem sehr breiten Temperaturspektrum überleben zu können. Schimmelpilze können bei Bedarf ihre Sporen „inaktivieren“, um kurzzeitig auch hohe oder tiefe Temperaturen überstehen zu können. Infolgedessen reicht das Temperaturspektrum von psychrophilen Schimmelpilzen mit einem Wachstum auch bei Temperaturen um null Grad, während thermophile Schimmelpilze auch bei Temperaturen bis knapp 60 °C wachsen können (siehe Abbildung). Auch hier gilt, dass es sich um Untergrundtemperatur (Substrat) handelt und nicht um die Raumlufttemperatur!
pH-Wert der Baustoffe
Schimmelpilze bevorzugen im Allgemeinen für ihr Wachstum ein leicht saures Milieu, also ein Substrat mit einem pH-Wert von 4 bis 7 (acidophil). Die meisten der üblichen Baustoffe und Untergründe in privat genutzten Innenräumen wie Tapeten, Dispersionsfarben, Kunstharzputze und Gipskartonplatten haben einen pH-Wert von 5 bis 7 und entsprechen somit dem Idealbereich für Schimmelpilze. Insgesamt reicht das Spektrum von einem pH-Wert von 3 bis 9, in Ausnahmen können einige Schimmelpilzarten auch Substrate mit einem pH-Wert von 11 bis 12 besiedeln (siehe Tabelle 1).
Tabelle 1: pH-Wert-Spektrum verschiedener Schimmelpilzarten und -spezies
Abbildung: Frank Frössel
Bei der Betrachtung des pH-Wertes muss beachtet werden, dass das Wachstum der meisten Schimmelpilze in einem anderen pH-Wert stattfindet als die Bildung der sekundären Stoffwechselprodukte wie der Mykotoxine. Es gibt einen weiteren Aspekt, warum die isolierte Betrachtung des pH-Wertes nur eine begrenzte Aussagekraft hat. Schimmelpilze haben ihre Überlebensfähigkeit auch in Bezug auf den pH-Wert des Substrates perfektioniert. Durch das Ausscheiden von bestimmten Stoffwechselprodukten können einige Schimmelpilzarten den pH-Wert des Untergrunds nach oben oder unten verändern – sich also ein ideales Umfeld schaffen, meistens durch das Absenken des pH-Werts. Dies ist wichtig zu wissen, da vielfach die Meinung vertreten wird, dass Materialien mit einem hohen pH-Wert wie Kalkfarben oder -putze, Silikatfarben oder -putze ein Wachstum auf natürliche Weise verhindern. Diese Annahme ist im doppelten Sinn nicht richtig. Denn selbst wenn eine Absenkung des pH-Wertes durch Schimmelpilze nicht stattfindet, baut sich die hohe Alkalität der frisch aufgetragenen Baustoffe relativ schnell ab. In Innenräumen geht man von einem Zeitraum von 6 bis 9 Monaten, in Ausnahmen auch mal bis zu 12 Monaten aus. In dieser Zeit kann das Schimmelpilzwachstum gehemmt werden. Sobald sich die Alkalität abgebaut hat, sind diese Oberflächen genauso schimmelpilzgefährdet, wenn die hierfür notwendigen Voraussetzungen vorliegen.
Räume mit unterschiedlicher Feuchtigkeit und Temperatur
Jahreszeitliches Auftreten verschiedener Schimmelpilzarten und -spezies
Abbildung: Frank Frössel
Bei einem Schimmelpilzbefall in Innenräumen konzentrieren sich die Untersuchungen in der Regel auf hygro-thermische Messungen, also der Messung von Feuchtigkeit und Temperatur in der Raumluft und/oder auf Bauteiloberflächen. Die bisher marktüblichen Bewertungsmethoden gehen in der Regel von stationären Randbedingungen aus und setzen für bauphysikalische Berechnungen ein Normklima an. Was für ein Wohn- oder Kinderzimmer geeignet erscheint, ist in einem feucht-warmen Bad oder einem kühlen Schlafzimmer ungeeignet. Hinzu kommen die instationären Randbedingungen wie die individuelle Wohnsituation (zum Beispiel differenzierte Wasserdampfproduktion je Raumnutzung in Abhängigkeit zum Raumvolumen und der Belegungsdichte) sowie die dynamischen Einflüsse (zum Beispiel individuelle Hintergrundbelastung durch Bioaerosole aufgrund von Witterung, Jahreszeit und/oder externen Expositionsquellen im Umfeld eines Gebäudes wie Deponien und Kompostanlagen, Gärtnereien und Stallungen), aber auch in Abhängigkeit von Alter und Hygiene einer Immobilie selbst.
Vorkommen der Sporen
Konzentration von Schimmelpilzen in der Außenluft in KBE/m³ (gemessen an einem Testobjekt in Stuttgart 2020)
Abbildungen: Frank Frössel
Jahreszeitlich bedingt beziehungsweise durch die Vegetation verschiedener Pflanzen und anderer Umstände treten Schimmelpilze nicht konstant über das gesamte Jahr auf, sondern in unterschiedlichen Konzentrationen über den Jahresverlauf (siehe Abbildung). Deutlich wird, dass in den Sommermonaten Juli bis September die höchste Belastung an Schimmelpilzsporen in der Außenluft vorliegt. Auch wenn der Cladosporium nur einen saisonalen Auftritt in den Sommermonaten hat, so sind seine Sporen zahlenmäßig am stärksten vertreten.
Anhand eines Beispiels soll der Unterschied zwischen der Stadt Stuttgart und einer ländlichen Region im Umland von Stuttgart (Schorndorf) verdeutlicht werden (siehe Abbildungen).
Konzentration von Schimmelpilzen in der Außenluft in KBE/m³ (gemessen an einem Testobjekt in Stuttgart 2020)
Abbildungen: Frank Frössel
Konzentration von Schimmelpilzen in der Außenluft in KBE/m³ (gemessen an einem Testobjekt in Schorndorf 2020)
Abbildung: Frank Frössel
Auffällig ist, dass die Schimmelpilzkonzentration im ländlichen Raum (ausgenommen die Gattung Cladosporium) mit etwa 1000 bis 2000 KBE/m³ Luft (im Durchschnitt) etwa doppelt so hoch ist wie in der Stadt. Auch die Schimmelpilzkonzentration des „Getreidepilzes“ Cladosporium ist um den Faktor 3 mal höher auf dem Land gegenüber der Stadt. Diese Beobachtung wurde bereits in einem groß angelegten Ringversuch 2012 und 2016 an verschiedenen Standorten in Baden-Württemberg gemacht. Ebenfalls hat die Art der Nährmedien Auswirkungen auf die Ergebnisse, wie das Beispiel am gleichen Testobjekt beweist. Hierfür wurden zwei Nährböden (DG18 und MEA) eingesetzt. Nach der Bebrütung bei 25 °C ergaben sich zum Teil deutliche Unterschiede in der Schimmelpilzkonzentration (Mischexposition, Querschnittswerte aus 3 Messungen). Bei der Auswertung der Messungen fällt auf, dass sich auf dem Nährboden MEA (Malzextraktagar) an zwei Messtagen im Mai und September deutliche Unterschiede in der Konzentration zeigen. Während die Messergebnisse im September nur etwa doppelt so hoch waren, zeigen die Messergebnisse im Mai eine unerklärliche Versechsfachung. Selbst wenn man die Messergebnisse im Mai ausblendet, zeigt der Versuch, dass die Nährmedien Einfluss auf das Ergebnis haben.
Ausbreitung der Sporen
Hierbei wird oft vernachlässigt, dass sich die Zahl und Größe der Schimmelpilzsporen stark voneinander unterscheiden und auch Zeitpunkt und Art der Probenahme großen Einfluss auf das Ergebnis haben können. So können an einem einzigen Fruchtkörper bis zu 106 Sporen pro Stunde und das über mehrere Tage produziert werden. Durch Luftbewegung wie Wind (Außenluft) oder Zugluft (Innenluft) erhöht sich die Fluggeschwindigkeit und Ausbreitung der Sporen. Die Flugfähigkeit wird neben der Sporengröße und deren Oberflächenform und -beschaffenheit auch vom Gewicht und der jeweiligen Spezies mit beeinflusst. Einige Sporen sind so klein und leicht, dass sie selbst ohne Luftbewegung schweben können. Andere wiederum sinken aufgrund ihres Gewichtes relativ schnell zu Boden und werden erst durch Aufwirbelungen wieder aktiv. In der Zwischenzeit können sie sich dort ansiedeln, wenn die notwendigen Lebensbedingungen vorliegen. Wiederum andere Sporen besitzen einen schleimigen Schutzfilm auf der Oberfläche, so dass sie untereinander gut kleben oder auf verschiedenen Substraten gut haften, was wiederum ihre Flugfähigkeit behindert (siehe Tabelle 2).
Tabelle 2: Sporengröße und deren Flugfähigkeit am Beispiel einiger Schimmelpilze
Abbildung: Frank Frössel
Fazit
Diese individuellen Unterschiede entscheiden oft über das Wachstum von Schimmelpilzen und sind ursächlich, warum zum Beispiel in einer Wohnung eines Mehrfamilienhauses Schimmelpilze auftreten und in anderen Wohnungen im gleichen Haus bei vermeintlich gleichen Bedingungen eben nicht. Deshalb ist es unumgänglich, für die Bewertung eines Schimmelpilzbefalls ein spezifisches Wachstumsmodell heranzuziehen (siehe Abbildung).
Komplexität eines spezifischen Wachstumsmodells
Abbildung: Frank Frössel
Hierbei handelt es sich um die konsequente Weiterentwicklung des Isoplethen-Modells sowie des biohygrothermischen Verfahrens des Fraunhofer Instituts für Bauphysik, mit dem auch multikausale Ursachen in einem dynamischen Umfeld und zum Beispiel der Einfluss von Biofilmen berücksichtigt und/oder der Einfluss möglicher Altschäden (Wiederbefall) bewertet werden. Hierbei werden die stationären und instationären Randbedingungen um die individuellen Einflussfaktoren ergänzt und bewertet und ein Bezug auf die individuellen Schimmelpilzspezies hergestellt, also eine konkrete Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen Ursache und Wirkung aufgebaut.
Autor
Frank Frössel ist Sachverständiger für Feuchteschäden und Schimmelpilzbefall, Autor mehrerer Fachbücher und Herausgeber des Wissens- und Informationsportals
schimmelpilzexpertise.de.