Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung im „Deutschlandhaus“ in Berlin

Das Berliner „Deutschlandhaus“ wurde zum Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung umgestaltet. Das Büro Marte.Marte erhielt das denkmalgeschützte Gebäude und ergänzte es mit einem kubischen Neubau für die Ausstellungen, der von Sichtbeton hoher Qualität geprägt ist.

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Das „Europahaus“ entstand in den späten 1920er-Jahren an der Berliner Stresemannstraße im Stil der Neuen Sachlichkeit. Der langgestreckte Komplex aus Flachbauten und einem Hochhaus mit großen Leuchtreklamen wurde zu einem emblematischen Gebäude der modernen Metropole – und zu einem beliebten Ort des Berliner Nachtlebens. Denn neben den Büroflächen gab es Läden, Gaststätten und Cafés, Tanzsäle und ein großes Lichtspielhaus.

Wie viele Bauten zwischen Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof wurde auch dieses Gebäudeensemble im Zweiten Weltkrieg sehr stark beschädigt. Der südöstliche Flügel, 1926 vom Architekturbüro Bielenberg & Moser in verhalten expressionistischer Formensprache mit Fenstergewänden und Eckpfeilern aus rotem Porphyr errichtet, wurde erst zu Beginn der 1960er-Jahre wieder instandgesetzt. Als „Haus der Ostdeutschen Heimat“ war es Begegnungsort für Vertriebene und auch erste Anlaufstelle für Geflüchtete aus der DDR. Der damalige Umbau brachte allerdings zahlreiche Veränderungen mit sich. So wurde der hofseitige Annex mit dem komplett zerstörten Kinosaal abgetragen und durch einen L-förmigen Büroriegel ersetzt, der das Gebäude zu einem Block mit Innenhof schloss.

Architekturwettbewerb für das neue Dokumentationszentrum

1974 wurde die Stiftung Deutschlandhaus gegründet und das „Europahaus“ in „Deutschlandhaus“ umbenannt. 2008 wurde es von der Bundesregierung als künftiger Standort des Dokumentationszentrums der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung bestimmt. Den 2011 ausgeschriebenen Wettbewerb für den Umbau und die Erweiterung gewannen die Vorarlberger Architekten Marte.Marte mit einem Entwurf, der den Bestand ergänzt und weiterentwickelt sowie Alt und Neu mit eigenständigen Identitäten konsequent ablesbar macht. Das Projekt besteht aus den sanierten denkmalgeschützten Büroflügeln entlang der Stresemann- und Anhalterstraße sowie den frei bespielbaren Ausstellungsflächen im neu eingefügten Baukörper. Dieser ist nur von der Rückseite des Komplexes sichtbar und setzt sich setzt sich mit klaren architektonischen Formen und großflächigen Glaselementen dezidiert von den historischen Fassaden ab.

Das Herzstück des Entwurfs bildet ein großes, differenziertes Raumvolumen, das die Dauerausstellung aufnimmt – und hinter den bestehenden Büroflügeln in den ehemaligen Innenhof implantiert ist. Dafür wurden die beiden rückwärtigen Trakte aus der Nachkriegszeit abgerissen. Doch knüpfen die Architekten mit dem neuen Baukörper nicht nur an die Platzierung und das Volumen des bauzeitlichen Kinos an, sondern schreiben auch die kulturelle Nutzung auf andere Weise fort.

Erweiterungsbau mit spannungsvollen Raumfolgen

Im Gegensatz zur kleinteiligen räumlichen Struktur der Bestandsflügel, die die Verwaltung der Stiftung aufnehmen, ist der Erweiterungsbau ein offenes, spannungsvoll differenziertes Raumvolumen. Dessen Mittelpunkt bildet das zweigeschossige großzügige Atrium, an das sich im Erdgeschoss der Veranstaltungssaal sowie ein 400 m² großer Raum für Sonderausstellungen angliedern.Wie auf einer breiten Freitreppe gelangen die Besucher in die erste Etage – einer luftigen Galerie als erste Ausstellungsebene – und weiter über die skulpturale Wendeltreppe zur zweiten Ebene.

Überspannt wird das Atrium von einer schwebend erscheinenden Sichtbetondecke, die ihre Lasten nur an den Ecken über die drei Treppenhäuser sowie den Aufzugsschacht ableitet. Planerisch und ausführungstechnisch war die Konstruktion dieser weitspannenden, fast 30 x 30 m großen Deckenfläche eine große Herausforderung. Gelöst haben sie die Planer und ausführenden Unternehmen mit einem komplexen statischen System als räumliches, über zwei Geschosse übergreifendes Tragwerk.

Es besteht aus einer Hohlkammerdecke mit integrierten Stahlverbundträgern sowie Wandträgern im vierten Obergeschoss, die durch Zugelemente weitere Aufhängepunkte bilden und das System unterstützen. Die Decke über dem Atrium selbst ist 140 cm stark; ihre Hohlkammern werden für die haustechnischen Installationen genutzt: für das Heizen und Kühlen per Bauteilaktivierung ebenso wie für das Entrauchungssystem, die Elektrik und die Frischluftzufuhr. Beim Betonieren der Decke bestand die Herausforderung für die Handwerker zum einen darin, die nahezu 1000 m² in einem Durchgang auszuführen. Zum anderen musste die Decke aus statischen Gründen knapp sechs Monate eingeschalt bleiben. Mithilfe von zwei Mock-Ups prüften die Architekten im Vorfeld die Qualität des Betons. Aber wie sich der Farbton der Sichtbetondecke während der ungewöhnlich langen Einschalzeit entwickeln würde, konnte man vorab nicht genau einschätzen. Doch konnte er im weiteren Verlauf an das Grau der Sichtbetonwände angepasst werden.

Auch die elegante und kraftvolle Wendeltreppe, die in die zweite Etage führt, setzt die architektonische Idee der fließenden Übergänge zwischen den Ebenen fort. Ihre skulpturale Wirkung wird unterstützt durch die hohe Qualität der Ausführung in Ortbeton, was nicht nur die Treppe aus einem Guss wirken lässt, sondern sie auch fugenlos mit den zylindrischen Wänden am Zugang zur zweiten Ausstellungsebene verschmilzt.

Öffnung nach außen und introvertierte Räume

Die beiden Etagen der Dauerausstellung widmen sich verschiedenen Themen und sind auch architektonisch unterschiedlich konzipiert: Die erste Ebene ist eine allseitig offene Plattform mit Blickverbindungen über das Atrium in die Bestandsflügel, bis hin zur großen Bibliothek mit dem Zeitzeugenarchiv. Zugleich orientiert sich das Gebäude auch zur Stadt: Raumhohe Glasfronten bieten direkte Sichtbezüge zum Martin-Gropius-Bau und dem Gelände der „Topographie des Terrors“ – die Architekten verbinden auf diese Weise das Haus mit der Geschichte des Ortes und verankern es im Stadtraum. Auf der ersten Ebene wird die Ausstellung „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“ gezeigt. In der introvertierten zweiten Etage liegt der Fokus auf der Flucht und Vertreibung von Millionen von Deutschen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa während und nach des Zweiten Weltkriegs. Die insgesamt 1300 m2 umfassende Ausstellung beider Etagen wurde von Atelier Brückner aus Stuttgart gestaltet.

Alt und neu klar ablesbar

Die Bestandsfassaden entlang der Stresemannstraße und der Anhalter Straße wurden denkmalgerecht aufgebereitet. Im Inneren wurde der Altbau schadstoffsaniert, entkernt und neu ausgebaut. Dabei wurde der teilweise sehr schlechte Bestand auf die historisch wertvolle Substanz reduziert, denn während der Arbeiten kamen einige erhebliche Mängel zum Vorschein. Der Wiederaufbau in den 1960er-Jahren nach dem damaligen Standard und mit den verfügbaren Mitteln entsprach teilweise nicht mehr den heutigen technischen Ansprüchen. Die Bausubstanz war teils deutlich schlechter als zuvor aufgrund von Erkundungen angenommen. So fehlten beispielsweise Stützen und Träger oder waren stark verschoben und verrostet. Die originalen Stahlsteindecken – bestehend aus Ziegeln, die mit Hilfe von einbetonierten Zugdrähten und einer Aufbetonschicht zwischen Doppel-T-Träger gespannt sind – wurden mit schwimmenden Estrich und Gipskartondecken im Hinblick auf den Trittschall verbessert.

Eine gebäudehohe „Lichtfuge“ trennt klar ablesbar den Bestand vom neu eingefügtem Raumvolumen: Durch das Glasband in der Dachfläche strömt Tageslicht bis in das Erdgeschoss des Atriums. Zugleich betont das Streiflicht die einstigen Hoffassaden des Altbaus, deren Öffnungen verkleinert wurden. Sie sind von breiten Faschen wie von großen Bilderrahmen umgeben, die an die ursprünglichen Größen erinnern und der weiß verputzten Fassade zusätzlich Plastizität verleihen. Im spannungsvollen Dialog dazu steht die reduzierte und puristische Materialität des Erweiterungsbaus. Die qualitätvollen Sichtbetonflächen der Deckenuntersichten, Wände, Treppen und des freistehenden Aufzugsturms überzeugen dabei ebenso wie der geschliffene Sichtestrich, der sich durch die Ausstellungsbereiche zieht und sie optisch verbindet. Diese monolithischen Flächen unterstreichen den Raumeindruck und schaffen zugleich einen zurückhaltenden, homogenen Hintergrund für die Vielzahl von Exponaten.

In der früheren Ladenzone des Erdgeschosses überraschen zwei Bereiche mit originalen Ausstattungselementen – Wandvertäfelungen aus Holz in expressionistischen Formen. So befindet sich neben der Eingangshalle mit der Kasse der Museumsshop, der im historischen Ambiente eingerichtet wurde. Hinter den Glasfassaden der Gebäudeecke wird  ein Restaurant die Gäste in den rekonstruierten bauzeitlichen Räumen mit ihrem besonderen Charme empfangen.

Autorin

Dipl.-Ing. Claudia Fuchs studierte Architektur an der TU Mün­chen. Sie arbeitet als freie Redakteurin und Autorin un­ter anderem für die Zeitschriften Detail, Baumeister, dach+holzbau und bauhandwerk.

Baubeteiligte (Auswahl)

 

Bauherr BBR Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Abteilung IV, Berlin, www.bbr.bund.de 

Nutzer Bundesstiftung Flucht. Vertreibung, Versöhnung, Berlin, www.flucht-vertreibung-versoehnung.de 

Projektsteuerung Kemmermann Projektmanagement im Bauwesen, Berlin, kemmermann.de 

Architekten Marte.Marte Architekten ZT GmbH, AT-Feldkirch, www.marte-marte.com  

Objektüberwachung rw+ Gesellschaft von Architekten, Berlin, www.rwplus.de

Statik R&P Ruffert Ingenieurgesellschaft, Berlin, www.ruffert-ingenieure.de

Rohbauarbeiten Bleck & Söhne Hoch- und Tiefbau, Berlin, bleck-soehne.de 

Betonarbeiten Makse Bau, Berlin S & G Hoch- und Tiefbau, Berlin

Abdichtungsarbeiten Tricosal Bauabdichtung, Chemnitz, www.heinrich-schmid.com 

 

Herstellerindex (Auswahl)

 

Gerüst Altrad plettac assco, Plettenberg, plettac-assco.de 

Schalung und Stützen Doka, Amstetten, Österreich, www.doka.com 

Bauwerksabdichtung Sika Deutschland, Stuttgart, www.sika.de

Weitere Informationen zu den Unternehmen
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