Handwerkliche Rekonstruktion des Fachwerkhauses „Zur Goldenen Waage“ in Frankfurt

Das prunkvollste Gebäude der neuen Frankfurter Altstadt ist das Haus „Zur Goldenen Waage“. Das reich verzierte Fachwerkgebäude der Renaissance wurde als statisch tragender Holzbau in Zusammenarbeit von Planern, Zimmerern und Holzbildhauer dem ursprünglichen Erscheinungsbild folgend wiedererbaut.

Die letzten Bauzäune sind verschwunden, und doch staunt man noch immer, wenn man in Frankfurt aus der U-Bahnstation Dom/Römer kommt: Anstelle der hohen Betonfassaden des Technischen Rathauses prägen nun Gässchen und kleinteilige historische Bürgerhäuser das Bild, deren Wohnungen, Läden und Restaurants sich zu einem lebendigen Stadtviertel fügen. Das Ensemble der neuen Altstadt ist auf dem 7000 m2 großen Areal zwischen Römerberg und Dom entstanden, das nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg zunächst im modernistischen Stil der 1970er-Jahre bebaut worden war. Im Jahr 2005 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, den großvolumigen Komplex des Technischen Rathauses abzu­reißen und schrieb einen städtebaulichen Ideenwettbewerb aus, den KSP Engel und Zimmermann Architekten gewannen. Daraus wurde ein Rahmenplan für die kleinparzellierte Bebauung nach historischem Vorbild entwickelt; diese gründet allerdings auf der bestehenden Tiefgarage, auf die eine neue Lastverteilplatte aufgebracht werden musste. Insgesamt umfasst das neue Stadtviertel 35 Häuser, von denen 15 als Rekonstruktionen und 20 als schöpferische Neubauten von verschiedenen Architekten geplant wurden. 

Repräsentatives Handelshaus

Ein besonderes Schmuckstück dieses Ensembles ist das prächtige Fachwerkhaus, das im Westen an den Domplatz grenzt – die „Goldene Waage“, deren namensgebender Fassadenschmuck an der Gebäudeecke über den Passanten schwebt. Errichtet wurde das reich verzierte Gebäude um 1619 als repräsentatives Wohn- und Handelshaus des vermögenden niederländischen Zuckerbäckers und Gewürzhändlers Abraham von Hameln. Es war das typische Handelshaus eines Großkaufmanns jener Zeit: Im Vorderhaus dienten das rund 5 m hohe Erdgeschoss als Verkaufskontor, in den Etagen darüber lagen die Wohnräume. Ein kleiner Hof führte zum Hinterhaus mit Lager, Werkstatt und Kammern. Auf dem Dach des Hinterhauses befand sich das so genannte Belvederchen, ein Dachgarten mit einer hölzernen Laube, die im Sommer ein angenehm luftiger Aufenthaltsort war.

Schon auf den ersten Blick fasziniert das filigrane Fachwerk, das sich über zwei Ober- und zwei Dachgeschosse auf einem massiven Sockel erhebt. Verzierte Andreaskreuze, Eckpfosten mit geschnitzten Ranken, die Knaggen als figürliche Schnitzereien, dekorative Leisten und ein farbig gefasster Wellengiebel zeigen den Wohlstand der damaligen Besitzer und sind in den vergangenen beiden Jahren mit Liebe zum Detail wieder errichtet worden. Die Rekonstruktion des 400 Jahre alten Gebäudes war dabei eine große Herausforderung für Planer und Handwerker. Dank der kunsthistorischen und baukünstlerischen Bedeutung des Hauses existieren zahlreiche Zeichnungen und Fotos, die den Zustand aus der Zeit vor der Zerstörung zeigen und die Bauweise ebenso dokumentieren wie den Gebäudeschmuck und die Innenräume. Dies diente den Frankfurter Architekten Jourdan & Müller als Basis für ihren Entwurf. Er vereint die auf minutiöse Bauforschung und Analyse beruhende Rekonstruktion mit den Anpassungen an aktuelle technische Standards und die neuen Nutzungen. So befindet sich nun im Erdgeschoss ein Café, und in den beiden Obergeschossen des Vorderhauses zeigt das Historische Museum originale Einrichtungsgegenstände des 17. Jahrhunderts, die einen guten Eindruck der damaligen Wohnatmosphäre vermitteln.

Der Großteil des Gebäudes wurde außen wie innen detailgetreu wiederaufgebaut. Nur das Erdgeschoss, einst aus dem für Frankfurt typischen Mainsandstein, wurde aus statischen und brandschutztechnischen Gründen in Stahlbeton errichtet. An den Fassaden wurden neue Sandsteinplatten vorgeblendet, die sich an der Gestaltung der ursprünglich massiven Quader orientieren. Auch die erhaltenen Originalsteine wurden als Spolien wiedereingesetzt.

Tragende Fachwerkkonstruktion

Prägend für die „Goldene Waage“ ist die originalgetreu rekonstruierte tragende Fachwerkkonstruktion der Obergeschosse mit ihren Verzierungen und dem ornamentalen Wellengiebel – damals wie heute eine handwerkliche Meisterleistung. Ausgeführt wurde sie, wie alle Zimmererarbeiten des Hauses inklusive der Holzbalkendecken, Dachkonstruktion, Fenster und Innentüren, vom Lemgoer Unternehmen Kramp & Kramp. Bei dem auf Altbauten und Denkmalpflege spezialisierten Unternehmen arbeiten Zimmerer, Techniker, Tischler, Restauratoren und Holzbildhauer Hand in Hand. Für das komplexe Projekt der „Goldenen Waage“ war deren  große Erfahrung in historischen Bauweisen und traditionellen Techniken dabei ebenso wichtig wie die Ausführung entsprechend zeitgemäßer Anforderungen. Für das sichtbare Fachwerk und die Wellengiebel verwendeten die Zimmerer etwa 50 m3 altes Eichenholz, das von Händlern für historische Baustoffe bezogen wurde. „Einerseits haben die 300 bis 400 Jahre alten Balken die charakteristische Patina eines historischen Gebäudes“, erläutert Maik Ebert von der Firma Kramp & Kramp, der die Objektleitung des Projekts verantwortete. „Andererseits durfte das verwendete Holz nur einen geringen Feuchtegehalt haben. Das ist mit frischem Eichenholz nicht realisierbar, weil man es nicht so schnell trocknen kann, ohne dass es im Einbau schwindet oder sich verwirft“, fährt der Zimmermeister und Restaurator fort. Jedes einzelne Bauteil der Fachwerkkonstruktion, jeder Stiel und jeder Riegel mussten statisch bemessen und kartiert werden. Die Tragwerksplaner erstellten die Vorgaben zu den Querschnitten. „Da das Holz aus Wiederverwendung kam und beispielsweise Zapfenlöcher aufweisen konnte, wurde auch festgelegt, welches Bauteil welche zulässige Querschnittsschwächung haben darf, damit es noch tragfähig ist. Deshalb mussten wir jedes Bauteil mit einem eigenen Datenblatt dokumentieren und alle Querschnittsschwächungen einzeichnen“, sagt Maik Ebert. In Anlehnung an die originalen Querschnitte entwickelte man so die Dimensionierung der Konstruktionshölzer; so haben die Eckstiele zum Teil einen beachtlichen Querschnitt von 42 x 38 cm. „Die historischen Verbindungen waren nicht besonders schwierig. Die Holzverbindungen, die wir jetzt auf Grundlage der statischen Berechnungen ausführten, sind anspruchsvoller als die originalen, was aber nach außen nicht sichtbar ist. Auf ein Minimum beschränkt und unsichtbar sind auch die statisch nötigen Stahlverstärkungen“, erklärt Ebert.

Großflächige Schnitzarbeiten

Für Schnitzereien und Profilierungen bearbeiteten die Handwerker eine Fläche von rund 70 m2 per Hand und verwendeten auch hier zu 98 Prozent wieder altes Eichenholz. Die dekorativen Schnitzarbeiten führten sie parallel zum Abbund aus. Nach den originalen Vorlagen, die auf alten Postkarten und Fotografien sichtbar waren, wurden alle Schnitzereien zunächst als Bleistiftzeichnungen im Maßstab 1:1 erstellt, mit den Architekten abgestimmt und anschließend zum Teil mehrfach überarbeitet. Auf Grundlage der Entwürfe wurden die Fachwerkstiele und Giebelhölzer dann händisch geschnitzt. Wie und mit welchen Techniken man das Holz in der Renaissance bearbeitete, konnten die Mitarbeiter an dem einzigen erhaltenen Balken des Originalgebäudes studieren: dem Eckstiel aus dem ersten Obergeschoss der Nord-Ost-Ecke, der im Historischen Museum in Frankfurt gelagert ist. „Dieses Bauteil haben wir uns ausgeliehen, und hiervon konnten wir die Schnitzmuster, die Optik und die Haptik abnehmen“, erläutert Maik Ebert. Seit vielen Jahren arbeitet das Unternehmen mit dem Holzbildhauer Wolfgang Koch zusammen. Er hat alle Schnitzarbeiten der „Goldenen Waage“ ausgeführt, da bei unterschiedlichen Bearbeitern verschiedene „Handschriften“ erkennbar wären.

Abbund und Aufbau

Aus den rund 350 Bauteilen des Fachwerks wurde in einer Halle in Lemgo das Gebäude geschossweise abgebunden, aufgebaut und zusammengesteckt. Durch den testweisen Aufbau der Fachwerkwände inclusive der Zapfen, Streben, Knaggen kann man mögliche Fehler sofort erkennen und nicht erst beim Aufrichten auf der Baustelle. Die Zimmerer bohrten bereits im Werk die Löcher für die Holznägel, die sie jedoch noch nicht einschlugen, sondern die Wände zunächst mit Hilfe von Schraubzwingen und Spanngurten aufstellten. Anschließend zerlegten sie die Konstruktion wieder und transportierten sie per Lkw als eine Art Bausatz zur Baustelle nach Frankfurt. Für den Aufbau der Wände wurde pro Geschoss rund eine Woche benötigt, für die Decken je Geschoss ebenfalls rund eine Woche; diese sind nicht als reine Holzbalkendecken wie im Ursprungsbau ausgeführt, sondern aus Brandschutzgründen als Holz-Beton-Verbunddecken. Insbesondere war auch die Baulogistik eine Herausforderung, da wegen des geschlossenen Baufelds nur zu bestimmten Zeiten eine Anlieferung möglich war.

Die Fachwerkwände wurden mit Lehmziegeln ausgefacht und erhielten auf der Außenseite einen Kalkputz. Innenseitig setzten die Handwerker eine Brandschutzschale und Installationsebene davor, die sie anschließend verputzten. Für das stimmige Erscheinungsbild sind die Fenster ein wesentlicher Faktor.  Die Mitarbeiter der Firma Kramp & Kramp montierten auch fachgerecht die filigranen Sprossenfenster, die als Kastenfenster konzipiert sind. Das äußere Element ist eine historische Rekonstruktion aus Eichenholz mit Einfachverglasung, auf der Innenseite wurde ein Isolierglasfenster vorgesetzt, das den aktuellen Anforderungen hinsichtlich Wärmeschutz und Sicherheit entspricht. Auch die auffällige Farbgestaltung der Fassaden hebt die „Goldenen Waage“ aus dem neuen Ensemble hervor. Früher wurden den Anstrichen vor allem regionale Ocker- oder Eisenoxid-Pigmente hinzugefügt, während Blautöne mit Azurit oder Lapislazuli oder Grüntöne mit Malachitpigmenten auf wohlhabende Hausbesitzer hinwiesen – ebenso wie vergoldete Konsolen. Ein Großteil der Fassade wurde nun mit Kalk- oder Silikatfarbe gestrichen, die in ihrer Haptik dem historischen Vorbild entsprechen. Für die Holzbauteile verwendeten die Handwerker Leinölfarbe, die speziell für Renovierungen denkmalgeschützter Häuser konzipiert wurde.

Baubeteiligte (Auswahl)

 

Bauherr DomRömer GmbH, Frankfurt am Main, www.domroemer.de 

Rahmenplanung KSP Engel und Zimmermann Architekten, Frankfurt am Main, www.ksp-architekten.de 

Architekten Jourdan & Müller, Frankfurt am Main, http://jourdan-mueller-steinhauser.de 

Holzbauarbeiten Kramp & Kramp, Lemgo, www.kramp-lemgo.de 

Schnitzereien Wolfgang Koch, Dörentrup, www.holzbildhauerei-koch.de 

Farben Caparol, Ober-Rahmstadt, www.caparol.de

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